Jens Gerrit Papenburg bekleidet seit April 2019 die Professur für Musikwissenschaft/Sound Studies an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er hat 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Arbeit „Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik“ promoviert und im Anschluss mit der Monographie „Para-auditive Subjekte der populären Musik. Eine Kultur- und Mediengeschichte, Deutschland 1890-1936“ habilitiert. Diverse Gast- und Vertretungsprofessuren haben ihn – neben Berlin – auch nach Lüneburg und Düsseldorf verschlagen. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist insbesondere der von ihm gemeinsam mit Holger Schulze herausgegebene Sammelband „Sound as Popular Culture. A Research Companion“ hervorzuheben, der 2016 bei MIT Press erschienen ist und in dem die Popmusik durch ihren Sound erforscht wird.
Nachdem in der ersten Episode des Podcasts mit Rolf Großmann jemand zu Wort kam, der schon lange eine Professur in diesem Bereich innehat und nun in den wohlverdienten Ruhestand tritt, haben wir für die zweite Episode jemanden aus der jüngeren Generation vors Mikro geholt (den Podcast könnt ihr hier hören). In diesem Gespräch gibt uns Jens Papenburg Einblicke in die Entstehungs- und Theoriegeschichte der Sound Studies und erläutert seine Sichtweise auf Klangkulturen und auf das Verhältnis von Musikwissenschaft und Sound Studies. Außerdem erläutert er, welche Beiträge und Akzente er mit seinen aktuellen und zukünftigen Forschungsprojekten zu diesem Forschungsfeld leisten will. Zu Beginn habe ich ihn gefragt, was sein Lieblingsklang ist.
Jens Papenburg: Ja, ein Klang, der mir in letzter Zeit gut gefallen hat, war der Laut eines Pavianen, also eines Affen, den der Klangforscher Bernie Krause aufgenommen hat. Bernie Krause und sein Buch „Das große Orchester der Tiere“ werden sicherlich einige kennen. Krause hat viele Tierklänge aufgenommen und ihm war es wichtig, nicht nur einzelne Klänge, sondern Soundscapes, also Klangumwelten als Gesamtheit, aufzunehmen. In diesem Zusammenhang hat er in einem Nationalpark in Simbabwe die Rufe von Pavianen aufgenommen. Und dieser Sound ist mir – wenn ich an die letzten Monate zurückdenke – als sonderlich eindrücklich in Erinnerung geblieben, weil in diesem Klang einiges zusammenkommt, was mich momentan interessiert: Fragen nach dem Ökologischen, Fragen nach Medientechnologien und vielleicht auch eine Kritik an anthropozentrischen Überlegungen, also an Überlegungen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Ich kann diese Rufe von den Pavianen, die Krause aufgenommen hat, vielleicht ein bisschen kontextualisieren: Er ist in einem Nationalpark in Simbabwe, die Sonne ist noch nicht aufgegangen – Beginn der Dämmerung – und das, was er hört, sind Klänge von Insekten, von Vögeln und Windgeräusche. Es ist äußerst trocken, man hört im gewissen Sinn auch die Trockenheit. Viele Klänge sind sehr nahe an ihm, in seiner unmittelbaren Umgebung. Und aus weiter Entfernung hört man diese Schreie von den Pavianen herüberschallen, die tiefer sind als die der Vögel und der Insekten, und sie sind mit ganz langen Hallfahnen ausgestattet. Er vermutet, dass sich die Paviane auf einem Felsen platziert haben, um den Hallraum auszunutzen, den der Felsen zur Verfügung stellt. Es sind Hallfahnen von so fünf bis sieben Sekunden, die man hören kann, und es sind Aufnahmen, die durch eine beeindruckende räumliche Tiefe gekennzeichnet sind. Sie sind auch dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Theorie von Bernie Krause exemplifizieren, nämlich die Theorie von der ‚Orchestrierung von Soundscapes‘: diese besagt, dass es Soundscapes – also Klanglandschaften – gibt, in denen die einzelnen Stimmen und Frequenzbereiche zu einem bestimmten Zeitpunkt selten doppelt besetzt sind.
Diese Aufnahmen waren im Rahmen einer Ausstellung in der Fondation Cartier in Paris zu sehen und zu hören. Diese Ausstellung und die dazugehörige Website stellen ein Tool zur Verfügung, mit dem man diese Soundscapes filtern kann, sodass man bestimmte Frequenzbereiche aus diesem gesamten Soundscape herausgreifen und besonders fokussieren kann. Dieser Klang ist mir vor diesem Hintergrund, aber auch vor dem Hintergrund eines Seminars zu ‚erweiterter Akustik-Ökologie‘, das ich gerade in Bonn unterrichte, in den letzten Monaten besonders im Gedächtnis geblieben: zum einen auf einer konkret sinnlichen Ebene, weil ich diese Rufe mit dem konkreten Hallverhalten recht beeindruckend fand. Auf der anderen Seite aber auch auf einer konzeptuellen Ebene, da diese Rufe eingebettet sind in das Projekt beziehungsweise in die Ausstellung „Das große Orchester der Tiere“ und auch die genannten Filter-Möglichkeiten zur Verfügung stellen.
Wie die Sound Studies entstanden sind
Lorenz Gilli: Dieses Beispiel der Paviane, das du angesprochen hast: da geht es um Field Recordings und um Soundscapes, die ja ein Gründungs-Topos und ein zentraler Bezugspunkt der Sound Studies sind. Ich denke hier auch an R. Murray Schafer und sein Buch „Die Ordnung der Klänge“: der Begriff ‚Soundscapes‘ kommt ja auch von ihm…
Ja, es gibt sozusagen eine Pionier-Phase, die um 1970 und um Personen wie R. Murray Schafer, Barry Truax und Hildegard Westerkamp zu situieren ist. Das ist eine Phase, die unter Schlagwörtern läuft wie „World Soundscape Project“, Soundscape-Forschung, Akustik-Ökologie, Akustik-Design und so weiter. In diesem Zusammenhang tauchte der Begriff ‚Sound Studies‘ nicht prominent auf. Aber trotzdem sind das ganz wichtige Formen von Pionier-Forschung, an die später zum Teil sehr kritisch angeschlossen wird. Von den Sound Studies, wie sie so ab 2003/2004 als ein transdisziplinäres Forschungsfeld entstehen, werden sie zum Teil als ‚sentimentale Ökologen‘ klassifiziert, die auch ‚antimodern‘ seien. Nichtsdestotrotz kann man sagen, dass da um 1970 und ausgehend von der Simon Fraser University viel Pionierarbeit passiert ist.
Des Weiteren gibt es viel Forschung zum Thema Klanglichkeit, die in Einzeldisziplinen stattfindet: In den 1980er und 90er Jahren gibt’s dazu in der Geschichtswissenschaft einiges – zum Einzug der Stille in den Konzertsaal und zum stillen Publikum beispielsweise – und in der Filmwissenschaft gibt’s einige Einzelstudien. In der Musikwissenschaft und in der Popmusik-Forschung spielt die Auseinandersetzung mit dem Sound der Musik – in Ansätzen schon in 80ern, aber verstärkt ab den 1990ern – eine Rolle. Und Jacques Attalis „Bruits“ (1977) hatte ich bis jetzt noch gar nicht erwähnt, ist aber natürlich auch eine Publikation in diesem Zusammenhang.
Aber ich würde sagen, dass ein wichtiger Einschnitt die neueren Arbeiten sind, die ca. ab dem Jahr 2000 entstehen. Diese Arbeiten sind in meinen Augen durch eine neue Qualität gekennzeichnet, die nicht mehr Klang im Rahmen von Einzeldisziplinen betrachtet, sondern im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsfeldes positionieren und die diese unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit Klang, die vorher stattgefunden haben, miteinander vernetzen. Da ist natürlich Emily Thompsons „The Soundscape of Modernity“ (2002) eine sehr wichtige Publikation, und ein Jahr später – es ist inzwischen fast ein bisschen langweilig, das als ‚bahnbrechend‘ zu bezeichnen – natürlich „The Audible Past“ von Jonathan Sterne.
Das wird ja sehr häufig als eine der zentralen Arbeiten angesehen.
Ja, und es ist sicherlich die Leistung dieses Buches! In dieser Zeit sind auch bereits Sammelbände erschienen oder erscheinen kurz darauf: „Hearing Cultures“ von Veit Erlmann oder der „Auditory Culture Reader“ von Michael Bull und Les Back, „Sounding Out the City“ von Michael Bull …
… „Audio Culture“ von Christoph Cox und Daniel Warner fällt mir auch noch ein …
… ja, genau. Da erscheinen diverse Sammelbände, aber auch noch Monografien. Und obwohl sie im Fall der Monografien aus Einzeldisziplinen kommen – Kommunikationswissenschaft im Fall von Sterne und Geschichtswissenschaften im Fall von Emily Thompson – entsteht meines Erachtens dann doch eine Vernetzungsleistung in Bezug auf die vorangegangenen Arbeiten und die vorangegangene Klangforschung, die schon in unterschiedlichen Disziplinen geleistet worden ist. Eine Vernetzungsleistung im Hinblick auf die Sound Studies, wie ich sie verstehen würde, nämlich als transdisziplinäres Forschungsfeld, das Impulse aus manchen Disziplinen prominenter bekommt – das wären vor allen Dingen die Kommunikationswissenschaft und auch die Geschichtswissenschaft, dann aber auch die Soziologie durch Michael Bull. Und das ist für mich als Musikwissenschaftler natürlich besonders interessant, da ich hier erst mal beobachten kann: Da hat sich die Musikforschung bzw. die Musikwissenschaft als Impulsgeber für die Entwicklung dieses transdisziplinären Forschungsfelds eher zurückhaltend verhalten. Es gibt prominente Ausnahmen wie Veit Erlmann, den ich schon genannt hatte.
Musikwissenschaft als Impulsgeber für die Sound Studies
Wie ist das Verhältnis von Sound Studies zur Popular Music Studies oder Popular Musicology, oder auch zur Musikwissenschaft insgesamt? Die Denomination deiner Professur ist ja „Sound Studies – Schrägstrich – Musikwissenschaft“: haben diese Bereiche zueinander gefunden oder wie würdest du das einschätzen?
Ich sehe es natürlich verstärkt als Aufgabe meiner Professur an, die Musikforschung – oder um es jetzt nochmal stärker disziplinär zu formulieren: die Musikwissenschaft – stärker als Impulsgeber für die Entwicklung der Sound Studies „aufzustellen“. Also: die Sound Studies als transdisziplinäres Forschungsfeld zu verstehen und die Musikwissenschaft auf Potenziale hin zu befragen, inwiefern die Musikwissenschaft ein Impulsgeber zur Entwicklung dieses transdisziplinären Forschungsfeldes sein kann. Nicht: Sounds Studies als Bestandteil der Musikwissenschaft, sondern Musikwissenschaft als Impulsgeber zur Entwicklung der Sounds Studies als transdisziplinäres Forschungsfeld. Das ist sicherlich eine der Aufgaben, die ich mir hier mit der Professur vorgenommen habe. Und da kann ich erstmal konstatieren, dass es, wie gesagt, zwar prominente Ausnahmen gibt – also Arbeiten von Musikwissenschaftlern, die meines Erachtens für die Entwicklung der Sounds Studies wichtig gewesen sind –, aber es bleiben eben eher Ausnahmen. Das ist ein bisschen überraschend, weil man ja aus dem Bauch heraus sagen könnte: Musik hat natürlich viel mit Klang zu tun und man könnte daher natürlich auch eine große Klangkompetenz bei der Musikforschung vermuten. Da gibt es gelegentlich die Kritik, dass diese Kompetenz nicht bestehen würde, sondern dass Musikwissenschaft vor allem ‚lesen‘ würde. Diese Kritik weist in meinen Augen auf etwas ganz Wesentliches hin, ist aber ein bisschen dramatisierend. Ich versuche in der Auseinandersetzung mit der musikwissenschaftlichen Tradition Bereiche in den Blick zu bekommen, wo Musikwissenschaft auch eine dezidierte Klangkompetenz entwickelt hat. Und da finde ich es naheliegend, danach zu fragen, wie man diese nutzen kann zur Entwicklung des transdisziplinären Forschungsfeldes der Sound Studies, das sich dann eben nicht nur mit dem Klang der Musik auseinandersetzt, sondern eben auch mit Klang in anderen gesellschaftlichen Feldern, also Arbeit, Politik oder Wissenschaft beispielsweise.
Mit der Kritik am ‚Lesen‘ der Musikwissenschaft meinst du vor allem die Zentrierung auf die Notation anstelle der Aufnahme oder des Klingenden?
Genau! Da gibt’s eine lange Tradition, die sich vor allen Dingen aus der kunstwissenschaftlichen Tradition des Faches herleitet: wenn sich im Rahmen dieser Tradition mit Musik auseinandergesetzt wird, dann geschieht das sozusagen mit alten Kategorien der Kunstwissenschaft, also ‚Werk‘, ‚Autor‘, und ‚wie wird das Werk manifest? – Partitur‘. Und dann gibt’s ja tatsächlich auch Ausführungen in der Musikforschung – Wolfgang Scherer hat die etwa sehr prominent zusammengetragen –, wo dann gar nicht mehr gehört, sondern nur noch gelesen werden soll, und das Gelesene soll im Inneren verklanglicht werden. Mir scheint das eine berechtigte Kritik zu sein, die aber natürlich ein Stück weit überzogen ist – und die auch wichtig war in dieser Überzogenheit, um auf irgendetwas hinzuweisen.
Aber es gibt natürlich Praktiken des Hörens, die in der Musikforschung eine lange Tradition haben und auch unterrichtet werden: man denke nur an so etwas wie Gehörbildung. Das ist eine Praxis des Hörens, die hochgradig selektiv ist und die geradezu ‚zwanghaft‘ versucht, aus einem komplexen Klanggeschehen immerzu Grundtöne herauszuhören. Und es gibt natürlich auch viele Musikformen – gerade in der populären Musik – die ästhetische Ebenen fernab von der Tonhöhe adressieren. Aber nichtsdestotrotz ist die Gehörbildung, die ja auch Bestandteil von vielen musikwissenschaftlichen Curricula ist, eine ästhetische Praxis. Es ist allerdings eine Hörpraxis, die eine konkrete und hochgradig spezifische Konzeption des Klangs der Musik voraussetzt, nämlich die Konzeption des Klangs als Ton: alles das, was gehört werden soll, sind Töne. Aber es ist eine Hörpraxis! Diese Auseinandersetzung mit dem Hören und auch mit Klang – aber diesem Fall verstanden als Ton – findet man in der Musikforschung. Und deswegen finde ich es naheliegend, die Musikforschung stärker daraufhin abzuklopfen, inwiefern sie ein Impulsgeber für die Entwicklung der Sounds Studies sein kann.
Klar! Mein Paradebeispiel ist natürlich der laute Bass im Club, von Techno-Musik oder von elektronischer Tanzmusik, und der erschöpft sich natürlich nicht darin zu hören, was das für eine Tonhöhe ist, sondern da kommen auch das ganze Sounddesign, die Obertöne oder Untertöne dazu, und natürlich auch die Lautstärke und die vibratorische und taktile Dimension.
Konzeptionen von Klang
Genau! Es gibt ganz unterschiedliche – ich nenne das – ‚Konzeptionen von Klang‘: Es gibt unterschiedliche Arten, den Klang der Musik zu konzipieren. Und diese in Bezug auf unterschiedliche, spezifische und ausgewählte Kulturen zu rekonstruieren finde ich ziemlich spannend! Das kann man natürlich stark in Bezug auf Musikkulturen tun, das könnte man aber auch auf Wissenskulturen beispielsweise erledigen. Weil du das Beispiel mit dem vibrierenden Bass angesprochen hattest: Da würde ich sagen, es gibt zum Beispiel eine Tradition der bürgerlichen Musikkultur, die im 19. Jahrhundert stark an Kontur gewonnen hat, und ich finde es interessant zu fragen, was für ein Konzept von Klang dieser Musikkultur zugrunde liegt. Da würde ich sagen: der Ton. Dieser Musikkultur liegt verstärkt das Klangkonzept des Tones zugrunde, d.h. sie konzipiert den Klang der Musik vor allen Dingen als Ton. Und es gibt es viele Praktiken, die daraufhin ausgerichtet sind: der Tonsatz beispielsweise in Bezug auf eine Komposition und die Gehörbildung in Bezug auf das Hören, das aus einem komplexem Klanggeschehen vor allem Töne heraushören möchte. Aber es gibt eben auch Musikkulturen, die den Klang der Musik anders konzipieren, die ihn eher als Schwingung oder als Vibration konzipiert haben. Das wäre dann unter populären Schlagworten wie ‚Basskultur‘ oder sowas fassbar. Es gibt aber auch Kulturen, die Klang vor allem über Volumen und Lautstärke konzipieren und in denen das zu einer ästhetisch scheidenden Dimension der Musik wird. Das heißt nicht, dass da nicht auch Töne auftauchen, aber die sind dort in meinen Augen nicht so bedeutsam. Es lassen sich also Musikkulturen finden, wo Volumen und Lautstärke eine zentralere ästhetische Dimension sind als etwa die Tonhöhe, und es lassen sich auch viele Praktiken finden die versuchen, sehr differenziert diese Dimension von Klang in ästhetischen Praktiken zu explorieren.
Kannst du noch ein Beispiel dafür nennen, vielleicht unabhängig von der ‚Bass Culture‘?
Na gut, dann leite ich jetzt auch schon ein wenig über auf den Klang, der mir eher ein bisschen Bauchschmerzen bereitet hat [beide lachen], ich kann das aber vielleicht schon mal ein Stück weit vorwegnehmen. Ich habe aktuell ein Forschungsprojekt, das sich mit der Konzeption des Klangs der Musik auseinandersetzt, die ich über den Begriff des Volumens adressiere, also in der der Klang der Musik als ‚voluminöse Entität‘ konzipiert ist. Das scheint mir in Musikkulturen eine Rolle zu spielen, aber auch in Klangkulturen außerhalb des Musikalischen, also etwa in politischen Kulturen. So lässt sich beispielsweise beobachten, dass Lautsprecheranlagen, wie sie seit den späten 1910er Jahren gebaut werden und dann so in den späten 20er und den 30er Jahren an ganz unterschiedlichen Orten verfügbar werden, dass mit diesen Anlagen Klangräume geschaffen werden. Also dass Klang als etwas konzipiert werden kann – auch in Bezug auf diese Anlagen – was eine nahezu räumliche Ausdehnung hat und einen Klangraum schafft, in dem dann hunderttausende Menschen leiblich ko-präsent sein können und klanglich adressiert werden können. Das wäre ein anderes Klangkonzept: ich nenne ich das eine Konzeption von Klang als ‚voluminöse Entität‘.
Wenn ich dich richtig verstehe, dann stehen da auch Fragen der Affizierung mit im Vordergrund, und auch die Frage, inwiefern das dann eben auch politisch sein kann bzw. politisch genutzt oder missbraucht werden kann. Spielen da auch aktuelle Protestkulturen – ‚Fridays for Future‘ oder ähnliches – auch eine Rolle?
Also in diesem Forschungsprojekt nicht. Das Forschungsprojekt untersucht zwei unterschiedliche Klangkonzepte in zwei Fallstudien, und die eine Fallstudie ist historisch auf den Zeitraum von 1890 bis 1945 fokussiert. Aber es geht nicht nur darum, historisch zurückliegende Wissenslücken zu schließen, sondern durchaus auch Anschlüsse zu populären Musikkulturen herzustellen, die Klang als voluminöse Entität konzipiert haben. In der Rockmusik ist der Anlagenbau im Zusammenhang mit den neuen Typen von Rockmusik-Festivals, wie sie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auftauchen – also Monterey und Woodstock –, natürlich auch ein Versuch, Klang vor allen Dingen als voluminöse Entität zu konzipieren.
Das finde ich total interessant! Da freue ich mich auf jeden Fall schon auf Ergebnisse. Ich hoffe, dass du dann auch auf Tagungen und in Vorträgen erste Ergebnisse präsentieren wirst. Du hast ja die Idee der ‚Klangkonzepte‘ in einer Ringvorlesung mit diversen Gästen umgesetzt, die auch online verfügbar sind. Vielleicht so zum Ende hin, bevor wir auf den Klang, den du angesprochen hast – den Klang, den du gar nicht magst – hingehen: Gibt es weitere zukünftige Forschungen, die du noch in petto hast, und auf die du uns einen kleinen Ausblick geben kannst?
Produzierte Musik & Kulturen des Hörens
Was ich mit der Professur auf den Weg gebracht habe und was ich versuche, mittel- und langfristig zu entwickeln, ist eine medienkulturwissenschaftlich ambitionierte Klang- und Musikforschung mit einem historischen Tiefgang. Das ist die Form der Klangforschung, die mich am meisten interessiert und die ich versuche weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund ergeben sich dann bestimmte Forschungsfelder, die mich schon eine Weile beschäftigen, aber die ich eben auch weiterentwickeln möchte: Das ist zum einen Forschung zu produzierter Musik, also die Frage danach, inwiefern produzierte Musik etwas ist, was nicht reduzierbar ist auf aufgeführte und aufgenommene Musik …
Entschuldige, nur ganz kurz: mit ‚produziert‘ meinst du in der Digital Audio Workstation hauptsächlich digital entstehende Musik und eben nicht eine Studioaufnahme von einer Rockband beispielsweise, oder?
Genau, also sowas würde ich dann auch damit meinen, ich würde es historisch nur noch ein bisschen weiter fassen wollen. Die Figur oder die Selbstbezeichnung des Musikproduzenten ist ja schon ein bisschen älter und ich würde sagen, die Geschichte der produzierten Musik lässt sich auch entlang der Geschichte des Tonstudios erzählen – Peter Wicke hat das beispielsweise sehr stark gemacht. Das ist also eine Geschichte, die sich letzten Endes für den ganzen Zeitraum, seitdem es Klangaufahmen gibt, interessieren könnte – vor allen Dingen auch seitdem es eine Musikindustrie gibt, also seit ca. um 1890. Das wäre der historische Zeitraum, der da in den Blick zu nehmen wäre. Produzierte Musik verstehe ich also als etwas, was im Zusammenhang mit oder in Bezug auf Audio-Technologien, Tonträger, digitalen Medien und Soundfiles und so weiter geschieht. Mich interessiert besonders eine Entwicklung der Musikforschung, die Musik eben nicht als Noten versteht, also als Auseinandersetzung mit Partituren, wozu es ja eine lange Tradition gibt; und auch nicht als aufgeführte Musik – das wäre die ganze Schiene der Performance Studies. Da würde ich sagen – und das interessiert mich an der produzierten Musik vor allen Dingen –, dass produzierte Musik etwas ist – um es mal vorsichtig zu formulieren – was nicht reduzierbar ist auf notierte Musik und auf aufgeführte Musik. Natürlich kann man das auch transkribieren, natürlich mögen auch bestimmte Leadsheats in Studios eine Rolle spielen, und natürlich kann das auch irgendwie auf die Bühne gebracht werden. Aber mich interessiert besonders die Frage, inwiefern produzierte Musik nicht reduzierbar ist auf notierte und aufgeführte Musik. Damit meine ich konkret eine Musikforschung, die sich vor allen Dingen für Tonträger und Soundfiles interessiert, wenn von Musik die Rede ist, und weniger für Aufführungen oder für Partituren. Da ist ja auch sehr viel passiert in den letzten mindestens 20 Jahren. Das wäre das eine Thema: Geschichte, Ästhetik, vielleicht auch Theorie von produzierter Musik. Und da spielen sicherlich auch Fragen des Sounddesign hinein.
Ein weiteres Thema, zum dem ich gerade ein Buch schreibe und das an meine Dissertation anschließt, ist eine Auseinandersetzung mit Instrumenten und Kulturen des Hörens aus einer historischen Perspektive. Um es ein bisschen platt zu machen, ist das eine Auseinandersetzung mit den Instrumenten, Medien und Technologien, über die in der Geschichte und in der Gegenwart gehört worden ist und gehört wird. Und dann gibt es natürlich noch die Forschung zu den Klangkonzepten. Das ist das, was mich am meisten interessiert und – ich glaube auch – was alles weitere trägt. Also, die Frage danach wie Klang unterschiedlich – historisch, kulturell, medial – konzipiert worden ist, und wie diese Klangkonzepte umgekehrt auch dazu führen können, Geschichte, Kultur und Medien neu zu denken. Das würde sozusagen in beide Richtungen gehen. Also das sind die drei Projekte, die mich aktuell – neben ein paar anderen Projekten – umtreiben und die ich mittel- und langfristig mit der Professur weiterentwickeln möchte.
Un-Lieblings-Sound
Das finde ich auf jeden Fall extrem interessante Themen und Schwerpunkte! Nachdem ich dich eingangs über den Lieblings-Sound gefragt habe, der ja der Klang der Paviane war, würde ich dich gern zum Schluss fragen: Was ist ein Sound, den du gar nicht magst?
Ich versuche mal, einen prägnanten Sound herauszugreifen – und das ist ein hochgradig ambivalenter Klang. Es ist ein eher zerbrechlicher Klarinettenklang, der Bestandteil einer Komposition von Werner Egk ist. Werner Egk ist ein deutscher Komponist und hat unter anderem die Musik für die Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin für die Nazis komponiert. Die Olympischen Spiele wurden am 1. August 1936 feierlich eröffnet und für das Festspiel in diesem Rahmen haben diverse Komponisten etwas komponiert, unter anderem Werner Egk. In einem Teil seiner Komposition – bezeichnet als „Waffentanz“ – ist prominent der recht zerbrechliche Klang einer Solo-Klarinette zu hören. Es spielt ein Orchester und es ist auch eine Orgel dabei. Dieser zerbrechliche Klang der Solo-Klarinette wurde aufgeführt und war im Olympiastadion von hunderttausend Menschen zu hören – als Teil des musikalischen Programms und des „Waffentanzes“ von Werner Egk. Den gibt’s übrigens auch als Studioaufnahme von Telefunken, veröffentlicht 1936.
Dieser Klarinettenklang ist über die Lautsprecheranlage des Stadions hörbar gewesen. Das ist eine Pilz-Lautsprecheranlage, also nicht eine Lautsprecheranlage, die einen Eindruck erzeugt, dass der Klang irgendwie von der Bühne kommt. Sondern es ist ein voluminöser Klangraum, den diese Pilz-Lautsprecheranlage eröffnet hat.
Diese Lautsprecheranlage kann also diesem zerbrechlichen Klarinettenklang ein Volumen geben und einen Klangraum eröffnen, der hunderttausend leiblich ko-präsente Menschen einschließen kann. Und da kommen in diesem Klang Themen zusammen wie eine gewisse Form von Intimität und Zerbrechlichkeit, aber natürlich gleichzeitig Faschismus, also Integration in eine Volksgemeinschaft und diese Simulation von Offenheit, die ja die Nazis mit der Olympiade ‘36 versucht haben. Und das gibt diesen Klang eine Ambivalenz von Faschismus und Intimität, die sicherlich hochgradig schrecklich ist.
(Bild links: Werbung für Großlautsprecher mit dem Markennamen “Pilzlautsprecher” von Telefunken, 1936; Quelle: https://www.medienstimmen.de/public-address-strategien-von-1919-bis-1949/elektroakustisches-engagement-fuer-die-nationalsozialisten/)
Jens, ich danke dir vielmals für dieses sehr interessante und vor allem auch sehr einblickreiche Gespräch in deine Arbeit, deine Sichtweisen und deine Forschungsansätze. Und wie gesagt, ich freue mich sehr auf das, was noch folgen wird und das, was wir von dir noch hören – vor allem hören! – aber auch sehen und lesen werden. Vielen Dank dafür!
Und ich bedanke mich für die Gelegenheit! Hat Spaß gemacht, dass ich hier in diesem Forum nochmal im Gespräch entwickeln konnte, was mich momentan so umtreibt und was ich als Zukunftsthemen für die Sound Studies einschätze. Dankeschön!
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.