Rezension | Felix Urban: Delay: Diabolisches Spiel mit den Zeitmaschinen: Technik. Musikproduktion. Rezeption (2020)

Christoph Borbach

Felix Urban: Delay: Diabolisches Spiel mit den Zeitmaschinen: Technik. Musikproduktion. Rezeption, Tectum: Baden-Baden, 2020. 276 Seiten, 54 €.


Maschinen @ Zeit – (not being) sorry for the delay

Über Zeitmaschinen ist in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft schon des Öfteren nachgedacht worden. Und bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass sich „Zeitmaschinen“ als weniger fiktiv erweisen, als sie zunächst vermuten lassen. Vielmehr kann und sollte der Begriff für die apparative, mithin medientechnische Verhandlung – das heißt die Konstruktion, Reproduktion, aber auch die Manipulation – von Prozessen in ihrer Zeitlichkeit geltend gemacht werden. Und aus dieser Perspektive heraus sind technische Medien, diesseits aller Metaphorik oder Science Fiction, Zeitmaschinen per se. So widmete sich beispielsweise Isabell Otto der Zeitmaschine als einem artefaktischen „Vehikel in einer Mediengeschichte des Verkehrs“ (2013). Die Uhr als basale Zeit-normierende Apparatur verstehend, untersuchte Peter Galison prominent „Einsteins Uhren“ (2003). Bereits 1977 bescheinigte Wolfgang Schivelbusch in seiner maßgeblichen Geschichte der Eisenbahnreise eben jener, im 19. Jahrhundert nicht nur eine Industrialisierung von Raum, sondern auch von Zeit evoziert zu haben. Ebenso bekannt in der Medienwissenschaft bescheinigte Siegfried Zielinski dem Videorecorder einst, eine audiovisuelle Zeitmaschine zu sein (1986).

Diese Tradition nimmt Felix Urban in seiner Dissertation titelgebend implizit auf und widmet sich in dieser nicht audiovisuellen – beispielsweise kinematografischen –, sondern den auditiven Zeitmaschinen des Delays. Denn beim Einsatz der akustischen Effektgeräte des Delays in der Musikpraxis stehen genuin sonisch-mediale Verhandlungen zeitlicher Signalprozesse zur Debatte, nämlich medientechnisch generierte Soundphänomene – namentlich akustische Verzögerungseffekte – und damit maschinell erzeugte „Zeitwe(i)sen“ (Ernst 2012). Konkret handelt es sich sowohl um analoge als auch digitale Verfahren der medialen Verzögerung akustischer Signale, vornehmlich im Genre „Dub“. Ist uns der Begriff des „Delays“ auch im Alltag bekannt, wo er allerdings eher negativ konnotiert ist, wenn sich beispielsweise bei der Bahn für Zugverspätungen entschuldigt wird – sorry for the delay –, stellt Urban die klang-ästhetischen Potenziale eben jener Verzögerungen in den Fokus seiner Arbeit. Die im Jahr 2018 an der Universität Potsdam eingereichte und verteidigte Dissertation von Urban erschien im Jahr 2020 im Tectum Verlag in der Reihe Medienwissenschaft.

Unter dem etwas weit gefassten Gesamttitel Delay. Diabolisches Spiel mit den Zeitmaschinen. Technik – Musikproduktion – Rezeption erarbeitet Urban eine fundierte Mediengeschichte akustischer Verzögerungen im Kontext (kommerzieller) Audioproduktionen, deren Bezugs- und Ankerpunkt das Klangschaffen des jamaikanischen Akteurs Lee „Scratch“ Perry ist. Urban widmet sich also der technischen Optimierung, Synthetisierung, Ästhetisierung und schließlich Kommerzialisierung des Laufzeitverhaltens von Klang im Raum. Damit arbeitet er einen Aspekt der medientechnischen Simulation der Räumlichkeit des Schalls auf, die auf keine tatsächlich existierenden, architektonischen Räume mehr zu verweisen hat, sondern Ergebnis von Audioproduktion im mitunter sterilen, abgeschotteten und synthetischen Umfeld des Tonstudios als Sound-Labor sein kann.

Wie Urban bereits eingangs darlegt, handelt es sich beim Delay um ein psychoakustisches Phänomen. Denn wird ein Klang technisch dupliziert und werden diese Sound-Doubles in der Zeit verzögert, d.h. auf irgendeine Weise zwischengespeichert, und schließlich mit dem originären Klangereignis wieder vermengt, erhält dieser originär ‚trockene Klang‘ subjektiv beim Hörenden den Eindruck von Räumlichkeit, gemäß der Dauer der kurzzeitigen Zwischenspeicherung. Delay-Medien in ihrer Erzeugung von Nachhall (reverberation) lassen somit akustische Räume, acoustic spaces, entstehen. Dieses psychoakustische Phänomen lässt sich bis zur vollständigen zeitlichen  Separierung von Originalklang und Duplikat steigern, was – wenn beide ausreichend schnell hintereinander erklingen – den subjektiven Effekt eines Echos erzeugt. Damit erweist sich der Begriff Delay als historisch verortbares Schwellenphänomen zwischen Technik, Psyche und Klanglichkeit im Kontext der Audioproduktion und dadurch als ein „historisch sehr spezifisch gewordenes Verständnis eines [originär, C.B.] akustischen Phänomens.“ (Urban 2020: 1) Beim Delay treffen in diesem Sinne verschiedene Ebenen der Simulation physikalischer Akustik aufeinander. Denn die mitunter historischen Medien des Delays machen das Laufzeitverhalten von Schall im Raum technisch kontrollierbar, mithin synthetisch produzierbar, wobei die ästhetische Referenz die Psychoakustik des hörenden Subjekts war und ist. Diese Trias an Dimensionen (Medien | Praktiken | Hörende) gilt es zu reflektieren, soll sich dem Delay medienhistorisch genähert werden, wie es Urban tut. Entsprechend bildet seine Dissertation inhaltlich und strukturell kapitelweise eine Dreiteilung ab, die nach den spezifischen Zugangsweise und Verhandlungen des Delays fragt: Die Techniken (Möglichkeitsbedingungen), die produzierenden Akteure (Medienpraktiken) und die Rezipient*innen (Psychoakustik).

Interessant an Urbans Dissertation ist, dass er in seiner Analyse zwei „Zeitwährungen“ (ebd.: 5) klar voneinander unterscheidet, um einerseits der historischen, andererseits der wahrnehmungstheoretischen Dimension seiner Untersuchung gerecht zu werden. Denn „[e]s ergibt sich ein Spannungsfeld für das ‚Musikwissen‘, das über das reine Schallereignis hinausreicht“, welches es für Urban musik- und medienhistorisch für das Delay zu rekonstruieren gilt. Dankenswerterweise nimmt Urban dies nicht chronologisch vor, sondern modelliert den Sachverhalt anhand von „Zeit-Verhältnissen“ (ebd.: 120), die sich zwar historisch verorten lassen, aber nicht vollständig allein in Historisierungen aufgehen können. Zudem versucht sich Urban trotz schwieriger beziehungsweise inkonsistenter Quellenlage fortwährend an einer Definition des Phänomens Delay in der Audioproduktion, die von einem Zitieren aus Gebrauchsanweisungen (von Delay-Effektgeräten) absieht. Beim Delay handelt es sich nämlich nicht um ein singuläres Gerät, sondern vielmehr um eine breite Produktpalette an Medien, welche sich als historisch variant und medienpraktisch variabel erweisen und damit nicht eindeutig festlegbar sind. Dass Urban dabei von der Rückbindung von „Dub“ an die jamaikanische Kultur weitgehend absieht, ist nicht negativ, sondern gibt den verschiedenen technischen Verfahren der Delay-Produktion ihren eigenen (Klang-)Raum.

Von Interesse dürfte seine Dissertation für Forscher*innen sein, die sich an der Schnittstelle von Musik- und Medienwissenschaft beziehungsweise -geschichte befinden und ein Interesse an den zumeist unsichtbaren Operativitäten technischer Objekte haben, die ihren ästhetischen Klang-Effekten vorgeschaltet sind, wobei Urban eben jene Effekte und ihre Rezeption nicht vernachlässigt. Denn eine Delay-Maschine wird erst durch die von ihr evozierte individualisierte Medienpraxis „Teil künstlerischer Arbeit, das heißt Teil eines intendierten Gebrauchs.“ (ebd.: 54) Geschadet hätte der publizierten Dissertation allerdings ein sorgfältiges Lektorat durchaus nicht, um Tippfehler und Inkonsistenzen in der Interpunktion zu vermeiden. Ebenfalls hätte der epistemologische Status akustischer Verzögerung und Wiederholung mit seiner mythologisch-kulturgeschichtlichen Aufladung seit der Antike vertiefende Erwähnung finden können (Stichwort: Nymphe „Echo“, ebd.: 123–125), ebenso das Delay als epistemisches Objekt und im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie eigenständiger non-human actor in der Wissensgeschichte der Akustik (hierzu bspw. mit Fokus auf die Theaterarchitekturgeschichte Tkaczyk 2014).

Stellenweise gerät auch die eigentliche Fragestellung aus dem Fokus der Untersuchung, bspw. wenn die Arbeit Meta-Ebenen der Dub-Produktion und -rezeption behandelt. Sehr ergiebig sind hingegen die Explikationen der historisch-technischen Hintergründe der Delay-Produktion von analogen „Verzögerungsleitungen“ (Urban 2020: 172–177) bis hin zu softwarebasierten Verfahren des Digitalcomputers (ebd.: 205–209). Von großer Aktualität hinsichtlich in der Medienwissenschaft geführter Debatten ist zudem der von Urban lediglich angedeutete Aspekt der medienpraktischen Varianz des Technischen im Kontext der Popmusikgeschichte. So sei von keiner Determinierung oder Formatierung der Audiopraxis durch technische Gerätschaften auszugehen, sondern vielmehr galt die „Zweckentfremdung“ von Audiogeräten als produktives „Stilmittel“ (ebd.: 93) – wofür auch das Delay programmatisch einsteht. In Anlehnung an Friedrich Kittler ließe sich hier kommentieren, dass der ‚Missbrauch von Effektgerät‘ gängige Praxis war und zum buchstäblich ‚guten Ton‘ gehörte (oder diesen erst erzeugte). In jedem Fall ist Urbans Dissertation diesbezüglich eine ergiebige Fallstudie, wie Innovationen in der (Dub-)Popmusikgeschichte eine wechselseitige Verfertigung von (Audio-)Techniken und Akteuren darstellen, wobei weder vermeintliche technische Konstanten noch medienpraktische Variablen als vorgelagert anzusehen sind.

Über akustische Phänomene zu schreiben – der Versuch und zugleich die fortwährende Problematik und Klage der Sound Studies –, ist schwer, wenn überhaupt adäquat möglich, muss das Rauschen des Realen doch dabei – wieder nach Friedrich Kittler – den „Engpaß des Signifikanten“ passieren (1986: 12). So bleibt festzuhalten, dass es parallel zum Lesen eine hilfreiche auditive Illustration gewesen wäre, hätte das stumme Buch Delay online mit zusätzlichen Klangbeispielen Perrys aufwarten können, um tatsächlich zum Delay und seiner technisch-materiellen Historizität und gleichermaßen psychoakustisch-signalspezifischen a-Historizität vorstoßen zu können. Denn Dissertationen, die sich vom Primat des Alphanumerischen scheiden und beispielsweise kommentierte Sound-Collagen wären, sind und bleiben wohl noch lange Zukunftsmusik.

Lee “Scratch” Perry – Here Come The Warm Dreads ft. Brian Eno [Official Video]

Literatur

Ernst, Wolfgang (2012): Chronopoetik. Zeitweisen und Zeitgaben technischer Medien. Berlin: Kadmos.

Galison, Peter (2003): Einsteins Uhren, Poincarés Karten: Die Arbeit an der Ordnung der Zeit. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Kittler, Friedrich A. (1986): Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose.

Otto, Isabelle (2013): „Die Zeitmaschine – Vehikel in einer Mediengeschichte des Verkehrs“, in Christoph Neubert & Gabriele Schabacher (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, Bielefeld: Transcript, S. 271–292.

Schivelbusch, Wolfgang (1977): Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München u.a.: Hanser.

Tkaczyk, Viktoria (2014): „Listening in Circles. Spoken Drama and the Architects of Sound, 1750–1830“, Annals of Science 71:3, S. 299–334.