Social Media Music Theory 

Musiktheorie auf Instagram als Teil einer Musikpädagogik im Zeitalter der Postdigitalität

Ein Beitrag von Marc Godau und Phillip Gosmann


“The social media world of music theory is both a scrappy Do-It-Yourself space and a serious arena for important music theorizing” (Piilonen 2022, 3).

Unser folgender Beitrag thematisiert die Vermittlung von Musiktheorie nach dem short video turn (Kaye et al. 2022). Eingelassen sind diese Betrachtungen in den bislang kaum erforschten Bereich musikpädagogischer Praktiken und der Wissenskommunikation von Musiktheorie auf Social-Media-Plattformen wie Instagram, beispielsweise durch sogenannte “Edugramers” (Beltrán-Flandoli et al. 2024). Nach einer kurzen Rahmung der Relevanz des Themas und zum Forschungsstand werden Reels rund um den Hashtag #musiktheorie systematisiert sowie die pädagogische Inszenierung von Musiktheorie anhand eines Kanals illustriert. Insgesamt präsentiert dieser Beitrag erste Ergebnisse zur Untersuchung postdigitaler Musikpädagogik auf Plattformen aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Paderborner Teilprojekt des Verbundes KuMuS-ProNeD.

Plattformisierung musikalischer Bildung

Auf Social-Media-Plattformen agieren Wissenschaftler:innen (Könneker, 2020), Musiker:innen (Haenisch et al. 2023) und Pädagog:innen (Richter et al. 2022; Hartung, 2023; Carpenter et al. 2024) gleichermaßen als Publikum und Creator:innen. Dabei ist ihr Wirken geprägt von Prozessen der Plattformisierung, insofern die Zirkulation kultureller Produkte von infrastrukturellen, ökonomischen und politischen Logiken algorithmusbasierter Plattformen beeinflusst ist (Poell, Nieborg und Dijk 2019). Von besonderer Bedeutung sind spätestens mit dem Aufstieg der App TikTok im Jahr 2018 audiovisuelle Mikroformate, so dass Content in Form von Kurzvideos auf Plattformen wie Instagram oder YouTube seit Ende 2020 an Popularität gewonnen hat (Liang und Wolfe 2022, 3).  

Die Relevanz plattformbasierter Pädagogik wird unter anderem darin gesehen, dass etwa charakteristische Merkmale wie Authentizität, Erreichbarkeit, Humor und Selbstironie inspirieren und zum Lernen anregen (Lu et al. 2016, 55; Nava et al. 2024; Taddeo 2023). Dies lässt Online-Plattformen einerseits in Konkurrenz zu etablierten Bildungsinstitutionen treten (Godau 2024; Hartung et al. 2023). Andererseits haben sich dadurch die Grenzen professionellen Handelns erweitert, indem Pädagog:innen als Content-Creator:innen zu Educational Influencers bzw. Bildungsinfluencer:innen avancieren können. So können sie mitunter ein großes Publikum von Follower:innen aufbauen, eigene Marken entwickeln und ihren Einfluss monetarisieren (Carpenter et al. 2023; O’Leary 2023). Beispielsweise erhielt Rick Beato mit Videos rund um produktionstechnische sowie musiktheoretische Themen seit 2015 sukzessive internationale Aufmerksamkeit (Moore 2023). Seinen Kanälen auf YouTube, Instagram und TikTok folgen knapp 6 Mio. Anhänger:innen (Stand 10/2024), er vertreibt ein eigenes interaktives Musiktheorie-Buch, und sein monatliches Einkommen im letzten Jahr (10/2023-09/2024) wird auf durchschnittlich rund 26.000 € geschätzt. 

Musiktheorie auf Social-Media-Plattformen

In den letzten Jahren erschienen Plattformen wie die Open Music Academy (Kaiser 2023) und Studien zum Musiklernen mit Gehörbildungs-Apps wie Auralbook, Perfect Ear oder Ear Master Pro (Chen 2015; Munive et al. 2023; Liu et al. 2021), zur Musikpädagogik in YouTube-Videos (Whitaker et al. 2014) oder zur Verwendung von Musiktheorie-Clips in formal-institutionellen Settings (Lang 2022; Nypaver 2023; O’Leary 2023; Piilonen 2022). Allerdings fehlen systematische Untersuchungen zur Vermittlung von Musiktheorie auf Short-Video-Plattformen wie TikTok oder Instagram. Hervorgehoben wird die Relevanz von Lehrvideos und (Peer-)Tutorials für informelles Lernen (O’Leary 2020, 2023; Rush 2023; Waldron 2023). Allerdings kann die unüberschaubare Anzahl an Videos mit heterogener Qualität Lernende herausfordern, wenn beispielsweise falsche Terminologien verwendet werden, Hinweise zu Lernwegen fehlen, Videos überproportional häufig auf Gitarren und DAWs eingehen, Fragen der Community in Kommentaren unbeantwortet bleiben oder Sprachbarrieren dadurch erzeugt werden, dass Inhalte vorrangig auf Englisch präsentiert werden (Schmidt-Jones 2022a, 8-15). Beobachtet wurde im Hinblick auf DAWs eine Popularität von Cheat-Videos für ein Musikmachen “without knowing music theory” (Schmidt-Jones 2022b, 156). Dies lehne implizit eine musikpädagogische Ideologie ab, die musiktheoretische Kompetenzen als fundamentale Voraussetzung zur Schöpfung ästhetisch akzeptabler Musik erkläre (Schmidt-Jones 2022b, 147). So würden diese Mogeleien ein stereotypisierendes Antikonzept von Musiktheorie  als “a difficult, archaic, or convoluted subject favored by ‚nerds,’ ‚brains,’ and ‚overthinkers’” evozieren  (Piilonen 2022, 8-9). Derartige gängige Klischees werden offenbar speziell durch Memes zu Musiktheorie wiederholt und neu referentiell (Stalder 2016) aufgelegt. An diese Forschungsarbeiten schließen wir an, indem wir die inszenatorische Vermittlung von Musiktheorie in audiovisuellen Mikroformaten am Beispiel deutscher bzw. deutschsprachiger Kanäle auf Instagram analysieren.

Ausgangslage und Methode

Unsere Betrachtung von Musiktheorie-Reels erwuchs aus einer offenen Recherche zu musikpädagogischen und -didaktischen Vermittlungsformen auf Instagram, bei der wiederholt Content mit musiktheoretischen Schwerpunkten auffiel. Im Fokus steht hier ein musikpädagogisches Interesse, obgleich wir uns der Herausforderung um eine musikpädagogische Verkürzung musiktheoretischer Inhalte bewusst sind (Weidner 2015).

Um zu rekonstruieren, wie die Vermittlung allgemein musikpädagogischer oder didaktisierter musikalischer Inhalte und speziell für die folgenden Ausführungen von Musiktheorie auf Instagram inszeniert wird, wurden zunächst Formate und Kanäle gesucht, die explizit Musiktheorie thematisieren, und diese in einem offenen Kodieren im Stil der Grounded Theory (Charmaz 2014) grob systematisiert. Ergänzt wurde das Sampling zu musikpädagogischen Inhalten rund um die Hashtags #musiklernen und #musikunterricht um die Suche nach dem Hashtag #musiktheorie für den vorliegenden Beitrag. Analysiert wurden damit Formate wie Videos, Bilder und Galerien, die auf ihre musikalischen Inhalte und ihr musikpädagogisches/-didaktisches Vorgehen hin untersucht wurden (O’Leary 2020; Whitaker et al. 2014). 

Verfahren des Web Scrapings (z. B. O’Toole 2023) wurden in diesem Anfangsstadium ausgespart, sodass die Auswahlmanuell erfolgte und einzig die oberflächlichen Metadaten, die Instagram zur Verfügung stellt, in die Auswertung einbezogen wurden. Es wurde darauf geachtet, etwaige algorithmisch bedingte Filtereffekte (Peters et al. 2023, 230) zu minimieren, indem mit drei verschiedenen Instagramprofilen recherchiert wurde. Bei der Suche traten jedoch Probleme auf, die in die Plattformlogik eingebettet scheinen. So divergierten die angezeigten Videobeiträge in Anzahl und Anordnung. Zudem führte die Suche teils zu einem weißen Bildschirm mit Ladesymbol oder zeigte im Browser im Gegensatz zur App nur 28 Beiträge an.

#musiktheorie auf Instagram

Thematisch versammeln sich unter #musiktheorie neben erwartbaren Inhalten wie allgemeiner Harmonie- und Rhythmuslehre, Gehörbildung oder Notensatz ebenso Übe- und Kompositionstechniken, Zitate, Memes sowie Werbung für Workshops, Seminare, Podcasts oder Bücher etc. Auffällig häufig waren Reels zur angewandten Musiktheorie, in denen musiktheoretische Phänomene (z. B. Tonleitern) auf das Instrumentalspiel übertragen wurden und die vor allem auf Gitarren- und Klavierspiel konzentriert waren. Dagegen erschienen beim Vergleich mit dem Hashtag #musictheory im letzteren Fall öfter DAWs. Als Formate finden sich Erklärvideos, Unterrichtsvignetten, Rollenspiele, Memes sowie Erklärungen und Instruktionen z. B. über den Aufbau von Akkorden u. a. als Übersichtskarte/-karussell, Cheat-Sheets oder abfotografierte Tafelbilder. Die Inszenierung von Musiktheorie in den Reels greift zudem die für Musiktheorie-Memes typische (Piilonen 2022, 7) humoristische Praxis auf. So fragt @luckylace.music in einem Slapstick-Rollenspiel, ob nach dem G7-Gipfel auch ein C-Tonic getrunken werde. Schließlich kennzeichnet der Hashtag auch Reels zu musikhistorischen Themen oder zu Song-Veröffentlichungen.

Besonders auffällig war das Quizfeature, das seit April 2019 existiert (Fiani 2022). Ermöglicht wird ein User:innen-Engagement durch Multiple-Choice-Fragen mit maximal vier vorgegebenen Antwortoptionen (A bis D), die angetippt werden können. Das führt zu einer unverzüglichen Rückmeldung, indem sich das ausgewählte Feld bei einer richtigen Antwort grün färbt und von Konfettiregen begleitet wird oder bei falscher Antwort rot mit einem taktil spürbaren Vibrieren (Abb. 1).

Abbildung 1: Quiz-Feature auf Instagram (Screenshots aus der App).

Quizze verweisen wie die Clips im Hochformat darauf, dass Musiktheorie auf Instagram zuallererst Smartphone-bezogene Praktiken (z. B. Tippen, Scrollen) adressiert. Solche Quizze finden sich zunächst in der Face-to-Face-Variante, bei der die Person im Reel Augenkontakt zum Publikum hält, und als Nahaufnahmen von Instrument und Hand, wenn etwa eine Tonfolge gespielt wird. Der Vergleich mit dem Hashtag #musictheory offenbart auch hier Unterschiede, weil sich dort ebenso Videos finden, in denen lediglich Notenblätter bzw. Screenshots oder -recordings aus Notationsoftware abgebildet werden. Eine Besonderheit stellten wir am Beispiel der Band MOLASS fest, die in Reels ohne den Hashtag #musiktheorie Quizfragen nach Akkorden oder Taktarten von Konzertmitschnitten oder Musikvideos integriert.

Ebenso fiel auf, dass das Quiz-Feature in einigen älteren Reels inaktiv oder übergroß dargestellt wurde, sodass nicht alle Auswahloptionen angezeigt bzw. geklickt werden konnten. Unklar blieb, ob dies auf eine Zeitbeschränkung, eine Fehlfunktion oder einen Repost, in dem nur das Feature abgebildet wird, zurückzuführen ist. Beispielsweise funktionierte ein sechs Wochen altes Reel im Gegensatz zu anderen älteren nicht mehr. In Kommentaren unter den Reels wurden technische Aspekte nicht diskutiert, sondern die Community sammelte weiter Quiz-Antworten.

Musiktheorievermittlung am Beispiel Maryna Aksenov

Exemplarisch für #musiktheorie-Content soll der Instagram-Auftritt von Maryna Aksenov (@marynaaksenov) vorgestellt werden (Analyse und Beschreibung des Kanals beziehen sich auf den Stand bis zum 17.07.2024). Auf dem Kanal mit ca. 1,2 Millionen Follower:innen finden sich insgesamt 1.536 Beiträge sowie 2.236 Reels. In der Beschreibung des Profils stellt sie sich als Pianistin und Komponistin sowie als Creatorin mit Reise- und Lifestyleinhalten vor. In ihrer Instagram-Biografie wird sie als „Musiker/in/Band“ geführt und zum einen angegeben, dass ihre Musikeinspielungen auf bekannten Streamingplattformen zu hören seien. Zum anderen werden nicht nur Musiktheorie-Lektionen und kostenlose Notenblätter im Instagram-Abonnement angeboten, sondern ein zentraler Bestandteil des Kanals sind seit Oktober 2023 auch Quiz-Reels zur Musiktheorie. Im Gesamtzusammenhang des Kanals deutet sich hier ein Wandel an, insofern der Video-Content von Pianoperformances, Klaviertutorials, Reposts von Memes sowie eigenen Clips und (Urlaubs-)Reisen nach neun Jahren auf Instagram um partizipative Inhalte erweitert wurde, die fast ausschließlich Musiktheorie thematisieren (Abb. 2). 

Abbildung 2: Anzahl musiktheoretischer Reels/Videos auf dem Kanal @marynaaksenov (Stand 17.07.2024), n = 885.

Den größten Anteil musiktheoretischer Inhalte machen Quiz-Reels zu Rhythmuslehre aus (n = 397). Inszenatorisch folgen diese Videos dem Face-to-Face-Konzept (Abb. 3): Circa eine Bildhälfte wird vom Körper der Musikerin vom Kopf bis maximal zur Hüfte eingenommen, und sie blickt, leicht seitwärts gewandt, mit geschlossenem Mund lächelnd die Nutzer:innen an. Die offenen Haare liegen stets auf der vorderen Schulter, wobei die Spitzen das Ende des Bildausschnittes markieren. In diesen Reels sitzt die Musikerin entweder an einem schwarzen Flügel und spielt einhändig Intervalle und Melodien, oder sie steht und klopft Rhythmen mit einem Stift auf den Deckel des Flügels. Im Vordergrund eingeblendet ist das Quizfeature, das bei Rhythmen und Melodien um Notenbeispiele mit einer überschriebenen Frage danach ergänzt wird, welche der Antwortmöglichkeiten das Hörbare korrekt bestimmten.

Abbildung 3: Aufbau eines Instagram Reels mit Rhythmusquiz von Maryna Aksenov.

Ähnlich verfahren auch Quizbeiträge, in denen eine bestimmte Tonfolge herauszuhören ist (n = 127) oder die letzte Melodienote einer angezeigten und hörbaren Notenfolge gesucht wird (n = 98). Neben den angeführten Beispielen finden sich auf dem Kanal noch weitere Quiz-Reels, z. B. zu Notensymbolen, Taktarten, Intervallen, Tonarten oder Akkorden. 

Illustriert werden soll dies an einem viersekündigen Rhythmusquiz (Abb. 3) vom 7. März 2024, das bislang 149.000 Aufrufe hat. Entsprechend der Praxis des Repostings wurde das Reel noch zweimal, am 23. März und 8. Juni 2024, mit abgewandelten Hashtags veröffentlicht. Zum einen besteht der Clip aus drei eingeblendeten Boxen (A bis C), in denen jeweils eine Rhythmusfolge ohne Taktart und Notenliniensystem notiert ist. Zum anderen sind drei Antwortmöglichkeiten (A bis C) im Quiz-Feature mit der Überschrift „WHAT RHYTHM IS CORRECT?” abgebildet. Die Musikerin steht wie bereits beschrieben am Flügel und blickt die Nutzer:innen direkt an, während sie in ihrer linken Hand einen Stift hält, mit dem sie den korrekten Rhythmus auf den geschlossenen Flügeldeckel klopft. In der Caption ist zu lesen: „Follow to learn music theory with me. #rhythm #rhythmus #musiktheorie”. Damit gibt die Videounterschrift einen Hinweis auf eine anvisierte Lernpraxis, in der ein gemeinsamer musiktheoretischer Lernweg dadurch konstruiert wird, dass dem Kanals gefolgt wird. Inszeniert wird in diesem Reel die Begegnung mit einer schweigenden Lehrkraft, die die Lernenden (die Betrachter:innen) in ihren Hörkompetenzen abprüft. Zu betonen ist hierbei, dass dieses ‚Abprüfen‘ ohne vorherige Einführung in den jeweiligen musiktheoretischen Themenbereich geschieht. Besonders durch die Nutzung eines Stifts, mit dem ‚live‘ der Rhythmus gespielt wird, wird die Szenerie vergleichbar mit einem Einzelunterricht. Dabei entspricht dieses Video einer sich prinzipiell unendlich wiederholenden Mikroszene, ohne Schnitte und ohne weitere Bildfilter oder Toneffekte außer den Einblendungen. Diese Schlichtheit ist Kern der Inszenierung. 

Unter dem Reel sind 161 Kommentare in mehreren Sprachen wie Englisch, Spanisch oder Französisch, was Rückschlüsse auf eine internationale Follower:innenschaft erlaubt. Thematisiert wird fast ausschließlich die korrekte Lösung “A” in rhetorischen wie affektiven Variationen (z. B. “Aaaa”, “A!😍” oder “A is correct”). Nur neun Kommentare thematisieren anderes, worunter (1) vier sind, die die Aufgabe als (zu) leicht einstufen, (2) einer mit falschem Ergebnis (C), (3) eine kritische Rückmeldung zur Dramaturgie der Videos, dass die Übungen auf dem Kanal immer bereits nach dem zweiten Ton lösbar seien, (4) eine Selbsteinschätzung (“never doubt urself cause i did and failed🥲”), (5) Applaus (👏👏👏👏) sowie (6) ein Kommentar zum Aussehen der Musikerin (“Your smile is mysterious like monalisas smile). Ausgeschlossen sind zumindest in diesem Beitrag Lern- oder Übestrategien. Mit dieser auffallend dominanten Explizierung des richtigen Ergebnisses in den Kommentaren zeichnet sich das Bild einer Community aus primär korrekt Antwortenden ab. Dies bestätigt den bereits in der Videoanalyse vorgetragenen Eindruck einer Abprüfung musiktheoretischer Kompetenzen, bei denen die Antworten in ‚richtig‘ und ‚falsch‘ einteilbar sind. Daraus entsteht, illustriert durch Emojis, ein affektiver Diskurs um Erfolg und Misserfolg in der Community.

Fazit

Das Lernen und Lehren auf und mit Online-Plattformen kann als ein wichtiger Aspekt musikalischer Lern- und Bildungspraxis in einer vollständig digitalisierten Welt, mithin in einer Kultur der Postdigitalität betrachtet werden. Infolge der Durchdringung fast sämtlicher Lebensbereiche durch das Digitale haben sich neue Handlungs- und Wahrnehmungsweisen sowie neue (Macht-)Strukturen etabliert (Klein 2019; Stalder 2016). Insofern reagiert eine postdigitale Musikpädagogik auf den Umstand, dass Musiklehrkräfte heutzutage ihren Lebensunterhalt allein auf oder in Ergänzung durch Social Media verdienen können. Musikpädagogik auf Short-Video-Plattformen wie Instagram oder TikTok hat damit die Dominanz traditioneller Bildungsinstitutionen dahingehend konterkariert, dass musikdidaktisch aufbereitetes Wissen auch fernab von Musik-/Hoch-/Schule usw. vermittelt wird.

Die Auseinandersetzung mit Musiktheorie auf Instagram verdeutlicht die Plattformisierung musikpädagogischer Praxis und zeigt zugleich, welche Inhalte sich auf Social-Media-Plattformen durchsetzen. Musiktheoretischer Content erscheint vorwiegend in klassischen Vermittlungsformaten wie Erklärvideos oder humoristischen Memes und Rollenspielen. Das inhaltliche Spektrum bleibt auf elementare Themen wie Gehörbildung, Funktions- und Stufentheorie sowie Rhythmus und in anwendungsbezogenen Clips oft auf Gitarre und Klavier begrenzt. Dominant sind instruktionale Formate, die musiktheoretische Konzepte darstellen oder am Instrument vorführen. Partizipative Formate, wie Duette oder Challenges, fehlen größtenteils, doch Quizze involvieren die Community durch Wissensabfragen und bilden damit neben den klassischen Formaten einen Großteil des musiktheoretischen Contents ab.

Für die beschriebenen Quizformate fällt allerdings die starke Akzentuierung von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ auf, womit zumindest in diesen Fällen musiktheoretische Diskurse bspw. um funktionstheoretische Inhalte ausgespart bleiben und der Fokus sich vollständig auf ein Exemplifizieren des korrekten Ergebnisses beschränkt. Insgesamt offenbart sich einerseits Musiktheorie in den untersuchten Reels als ein stabiler, undynamischer und universeller Wissensbereich abendländischer Manier. Ungeachtet individueller Lebensumstände einzelner User:innen machen die Quiz-Reels andererseits Musiktheorie zu einem Kompetenzbereich, der nicht systematisch vermittelt, sondern vor allem abgefragt wird. 

Die Reels variieren weiterhin stark in der Produktionsqualität. So existieren sowohl aufwändig produzierte Videos als auch einfache, laienhaft anmutende Clips, die alltägliche Umgebungen wie ein Wohnzimmer in Szene setzen. Letzteres lässt sich einordnen in die Strategien der Veralltäglichung eines kalibrierten Amateurismus (Abidin 2017), der etwa ein ‘friendly neighbour musician’ image“ erzeugt,  „which makes the Instagrammer closer to their followers and allows the creation of parasocial relationships.” (Jaakkola 2023, S. 303) Ein Beispiel hierfür bietet der Kanal von Maryna Aksenov, der diese Inszenierungstechniken kombiniert. Damit liefern die skizzierten Formen plattformisierter Vermittlungspraxis einen Ausgangspunkt für die weitere Auseinandersetzung von Musikpädagogik mit Musiktheorie in Short Videos sowie musikalischen Lern- und Bildungspraktiken auf Social Media.  


Über die Autoren

Prof. Dr. Marc Godau ist Leiter des Instituts für Begabungsforschung in der Musik an der Universität Paderborn und Professor für empirische Musikpädagogik mit besonderer Berücksichtigung schulischer und popkultureller Kontexte. Er ist Teilprojektleitung des vom BMBF geförderten Forschungsprojektes Musical Communities in the Postdigital Age (MusCoda) sowie Projektleitung des ebenfalls vom BMBF geförderten Teilprojektes „Postperformative Musikpraxen in postdigitaler Lern- und Bildungskultur“ des Verbundes KuMuS-ProNeD (Professionelle Netzwerke zur Förderung adaptiver, handlungsbezogener, digitaler Innovationen in der Lehrkräftebildung in Kunst, Musik und Sport). Kontakt: marc.godau@uni-paderborn.de, https://www.uni-paderborn.de/person/98877

Phillip Gosmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Begabungsforschung in der Musik an der Universität Paderborn. Er arbeitet u. a. im vom BMBF geförderten Teilprojekt „Postperformative Musikpraxen in postdigitaler Lern- und Bildungskultur“ des Verbundes KuMuS-ProNeD (Professionelle Netzwerke zur Förderung adaptiver, handlungsbezogener, digitaler Innovationen in der Lehrkräftebildung in Kunst, Musik und Sport). Kontakt: pgosmann@mail.uni-paderborn.de, https://www.uni-paderborn.de/person/59865

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