Maximilian Haberer
Wenn die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Sound Studies gestellt wird, scheint als kleinster gemeinsamer Nenner die Antwort „die Kulturen und Phänomene des Klanglichen“ zunächst naheliegend. Doch wird hierdurch ein wichtiger Aspekt ausgeschlossen, der als durchaus konstitutiv für diese transformative (Nicht-)Disziplin betrachtet werden kann: Die Frage nach dem Unerhörten, nach dem was gerade nicht klingt und/oder (noch) nicht als Sound/Klang/Musik/Sonisches etc. (an-)erkannt wird.
Dabei wird die Frage nach dem Außen, nach den Ausschlusspraktiken, nach den Un-Sounds, in zahlreichen Schriften des Sound Studies-Kanons schon immer gestellt und kann als eine wichtige Leitfrage verstanden werden (siehe etwa Attali 1977; Barthes 1972; Kahn 1999; Cox 2011; Hainge 2013; Hagood 2019 uvm.). Angesichts der Genese der Disziplin ist das zunächst auch gar nicht verwunderlich. Die Sound Studies haben sich, zumindest in ihren Anfängen, immer schon in Abgrenzung definiert – in Abgrenzung etwa zur visuellen Hegemonie in der Philosophie und den Naturwissenschaften, aber auch zum Klang- und Musikbegriff der traditionellen Musikwissenschaft. Die gleichzeitige Nähe zur Sound Art und zur Avantgarde, aber auch der Anspruch, eine inhärent kritische Perspektive einnehmen zu wollen (vgl. Sterne 2012; Schulze 2014), verdeutlichen, dass die Sound Studies die Ein- und Ausgrenzungen des eigenen Gegenstands und somit die eigentlichen Randbereiche vornehmlich ins Forschungszentrum zu befördern und infrage zu stellen scheinen.
Die Frage nach dem kulturell Verdrängten, nach den Grenzen und Ausschlussmechanismen, nach den Un-Sounds, lässt sich so als eines der zentralen Themen der Sound Studies herausstellen.
Kulturelle Verdrängung
Seine prominenteste Verwendung findet der Begriff der Verdrängung sicherlich in der Psychoanalyse, insbesondere in den Schriften Siegmund Freuds: als Synonym für Unterdrücktes, Verleugnetes, wobei es Freud zuvorderst um die Verdrängung traumatischer Erfahrungen und Erinnerungen geht. Das Potential des Verdrängten, in krankhaften Symptomen wiederzukehren, macht laut Freud die „Verdrängungslehre [zum] Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht.“ (Freud 1914, S. 54) In der Traumdeutung beschreibt Freud die Verdrängung als von der Verleugnung kaum zu unterscheiden und sieht ihr Motiv in der „Verhütung einer Angst- oder Unlustbindung“. (vgl. Eickhoff 2017). Die Wiederkehr des Verdrängten ist in diesem Sinne auch als ein Misslingen der Verdrängung zu verstehen, eine Art Durchbruch über Ersatzbildungen. In seiner Schrift Die Verdrängung von 1915 erklärt Freud die Verdrängung als ein „Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung“. (Freud 1916-17, S. 248) Die Aufhebung der Verdrängungen ist das therapeutische Ziel der Psychoanalyse. (vgl. ebd., S. 451f.)
Verdrängung als kulturelles, d.h. als semiotisches und epistemologisches Ausschlussverfahren findet sich insbesondere in den Schriften Michel Foucaults und Judith Butlers wieder. So sind Foucaults Schriften, von Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault 1973) bis Sexualität und Wahrheit (Ders. 1979), stets auch von der Frage nach kulturellen Ausschlüssen geprägt. Und bei Judith Butler steht die „störende, transformierende Wiederkehr des kulturell Verdrängten, Verworfenen und Marginalisierten“ (Kämpf 2011, S. 246) sogar im Zentrum ihres Schaffens. Nach Heike Kämpf geht es Butler vor allem um die kritische Beleuchtung „kultureller Intelligibilität“, also um das, was innerhalb einer Kultur „gedacht und was nicht gedacht werden kann“. (ebd., S. 250) Das kulturell Ausgeschlossene fällt hierbei jedoch keinesfalls in eine Ohnmachtsposition. Gegenteilig bleibt das vorläufig Ausgeschlossene als kulturelle Möglichkeit bestehen und verfügt potentiell über die Macht, „die Bedingungen kultureller Intelligibilität zu verändern.“ (ebd., S. 251) Als „kulturelle Möglichkeit“ gelesen, die von der herrschenden Kultur in das Reich des Unmöglichen verwiesen wird, kann das kulturell erzeugte, konstitutive Außen der Kultur erst seine transformierende Macht entfalten, die in einer störenden Wiederkehr den Horizont des Symbolischen erweitert und verändert. Somit geht es Butler letztlich um die Formulierung eines Kulturkonzeptes, „das den Bereich des Intelligiblen oder Symbolischen erweitert“ und so auf „seine eigenen Verwerfungen und Verdrängungen antwortet und die Unnachgiebigkeit des Ausschlusses überwindet“. (ebd.)
In der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft, die als einer der Eckpfeiler der deutschsprachigen Sound Studies gesehen werden kann, spielen nicht nur die Schriften und Theorien Michel Foucaults und Judith Butlers eine Rolle, sondern auch die hiervon ausgehende Beschäftigung mit medienkulturellen Verdrängungen. Zu denken ist hierbei beispielsweise an die Verdrängungen des Male Gaze bei Mulvey (vgl. Sassaltelli 2011), an die Wahrnehmungssteuerung und Wahrheit der technischen Welt (vgl. Kittler 2013) sowie an die Verdrängungskultur des Anthropozäns (vgl. Crutzen 2006; Parikka 2015). Selbst aus der Delinquenz geboren, teilt die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft dabei das Schicksal der Sound Studies, als genuin kritische Wissenschaft, als Stachel im eigenen Fleisch, die eigenen Ränder und Ausschlüsse stetig zu zentrieren und neu zu verhandeln.
Das Unerhörte – Die Wiederkehr verdrängter Klänge und Klangkulturen
Um das Motiv der Verdrängung dem Sound Studies-Diskurs angemessen zuzuführen, scheint der Begriff des Unerhörten naheliegend, da sich in ihm zum einen der sozialkulturelle Aspekt des Ausschlusses und zum anderen die transformative Wiederkehr vereint. Als Unerhörtes sollen in diesem Sinne also all die verdrängten, all die ausgeschlossenen und abgesonderten Sounds verstanden werden, die durch Forscher*innen in den Diskurs zurückgetragen und zentriert werden.
Die Hinwendung der Sound Studies zum Unerhörten ergibt sich sicherlich auch aus ihrer genuinen Nähe zur akustischen Avantgarde. So findet sich im bekannten Audio Culture-Reader von Christoph Cox und Daniel Warner (2017) auch das bekannte Futurismus-Manifest von Luigi Russolo sowie Texte von Edgar Varèse zur Befreiung des Klangs und von John Cage zur Zukunft der Musik wieder. Katalysiert durch das Zuhandensein neuer Soundaufnahmetechnologien wird hier das Außen der Musik, werden hier die Un-Sounds fokussiert und zum neuen Musikmaterial erklärt. In ähnlicher Weise, wohl aber mit anderer Absicht, stellen auch Pierre Schaeffer und Pierre Henry die musikästhetischen Ein- und Ausschlüsse infrage und begeben sich auf ihre berühmte Suche nach einer Musique Concrète (Schaeffer 2012) bzw. Musique Experimentale, deren schriftliche Dokumentation durch Schaeffer noch heute zum Kanon der Sound Studies gehört. Dies liegt sicherlich nicht zuletzt auch an dem Selbstverständnis der französischen Komponisten, sich auch als Wissenschaftler, oder wie man heute sagen würde, Artistic Researchers, zu begreifen. Hiervon zeugen dann nicht nur die Schriften Schaeffers, sondern auch die Kompositionen Pierre Henrys, wie der sechste Satz Etirement (Dehnung) aus dem Stück Variations pour une porte et un soupir (Variationen für eine Tür und ein Stöhnen) gut verdeutlicht.
Das Stück, das mit Sicherheit bei einigen starke affektive Reaktionen hervorruft, lässt sich auch als ein Beispiel für die Art von Klangkunst nehmen, deren Wirkung Christoph Cox mit seiner Theorie des Sonischen Materialismus (vgl. Cox 2011; siehe auch Kane 2015) zu fassen versucht. Im Prinzip beschreibt hierbei Cox eine an Deleuze orientierte, materialistische Ontologie, nach der Sound als ununterbrochener, intensiver Fluss von Materie verstanden wird, der auch jenseits der Hörgrenzen und der Hörenden besteht und sich in Sprache, Musik und Klängen lediglich aktualisiert. Bestimmter Klangkunst gelinge es demzufolge besonders gut, diese ontologische Bedingung des Klangs offenzulegen. Die Verdrängung bei Cox liegt dabei zum einen im Aufzeigen eines Deleuz’schen Virtuellen des Klangs sowie zum anderen in der Eigenschaft traditioneller Musik und hiermit verbundener ästhetischer Theorien, die Ontologie des Klangs zu verstellen. In diesem Sinne lässt sich Cox‘ Theorie eben auch als eine Fokussierung des Unerhörten verstehen.
Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden, bei denen das Unerhörte als Wiederkehr verdrängter Klänge und Klangkulturen eine Rolle spielt. Beispielsweise die Verdrängung der Ohren bei der Soundwahrnehmung in den Disability bzw. Deaf Studies (vgl. Mills 2015) oder unbewusste sonische Affizierung durch Infra- und Ultraschall bei Steve Goodmans Sonic Warfare (2012). Als letztes Beispiel soll aber eine Diskussion im Sound Studies-Diskurs selbst zu den eigenen Verdrängungstendenzen dienen: So hat Gus Stadler 2015 auf dem Blog Sounding Out! darauf aufmerksam gemacht, dass in den zu jener Zeit erschienen ersten Sound Studies-Readern das Thema race und „racialized differences in listening“ ausgespart wird. Dies sei vor allem deshalb problematisch, weil in den American Studies hierzu eine Vielzahl von Literatur existiere, die in die Reader hätte mit aufgenommen werden können:
„Encountering the three books at once, I found it hard not to hear the implicit message that no sound-related topics other than black music have anything to do with race. At the same time, the mere inclusion of work on black music in these books, without any larger theory of race and sound or wider critical framing, risks reproducing the dubious politics of white Euro-Americans’ long historical fascination with black voices.”
(Stadler 2015)
Zeitgenössische Beispiele des Unerhörten
Zum Abschluss steht noch einmal Klangkunst selbst im Vordergrund, und zwar solche, die, auch im Sinne einer akustischen Forschung, Unerhörtes zum Klingen bringt.
Spätestens seit den Arbeiten Jonathan Sternes zum Mp3-Format (vgl. Sterne 2012) wissen wir um die umfänglichen Verdrängungen von Klanginformationen bei Audiokompressionsverfahren. Ein weiteres standardisiertes Verdrängungsverfahren ist das sogenannte Rauschunterdrückungsverfahren, welches insbesondere bei Field Recordings oder Stimmaufnahmen das Grundrauschen einer Mikrofonaufnahme, meist durch Frequenzanhebungen und -absenkungen, verringert. Gewisse Aspekte der Aufnahme werden hierbei unterdrückt bzw. verdrängt. Der österreichische Komponist Richard Eigner versteht diese Form der Klangverdrängung als ästhetische Praxis:
„This work [Denoising Noise Music] is an early attempt to use denoising-techniques in a creative and compositional manner. Instead of utilizing noise-reduction-algorithms for their intended purpose (the restauration of damaged audio signals), these processes are applied to various noise-music-compositions from early Luigi Russolo and Pierre Henry to contemporary works of Merzbow and Fennesz. Due to the fact that in the majority of cases, noise-music lacks traditional musical structures such as harmony and melody, this operation erases the original compositions, except for a few audible traces. Which audible parameters can resist this »audio-erasement-process«?”
(Aus den Liner Notes von Eigner 2007)
Der Gegenstandsbereich, der spezifische Sound der Sound Studies, liegt so womöglich gar nicht in einer vielfältigen Bestandsaufnahme des bereits Erfassten, sondern gegenteilig in der Suche nach dem Unerhörten.
Literatur
Attali, Jacques, Bruits: essai sur l’économie politique de la musique, 1977.
Barthes, R, “Le grain de la voix”, Musique en jeu 9, 1972, S. 57-63.
Cox, Christoph, “Beyond representation and signification: Toward a sonic materialism”, Journal of visual culture 10.2, 2011, S. 145-161.
Cox, Christoph; Warner, Daniel (Hg.), Audio Culture, Revised Edition: Readings in Modern Music, 2017.
Crutzen, Paul J., “The ‚anthropocene‘“, in: Ehlers, Eckart; Krafft, Thomas (Hg.), Earth system science in the anthropocene, 2006, S. 13-18.
Eickhoff, Friedrich-W, „Verdrängung“, in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie online 2017. DOI: 10.24894/HWPh.4549.
Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 1973.
Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit/1 Der Wille zum Wissen, 1979.
Freud, Siegmund, „Die Traumdeutung“ (1900), Gesammelte Werke [GW] 2/3, hrsg. A. Freud et al. Imago 1940-1987.
Freud, Siegmund, „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ (1914), GW 10.
Freud, Siegmund, „Die Verdrängung“ (1915), GW 10.
Freud, Siegmund, „Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1916–17), GW 11.
Goodman, Steve, Sonic warfare: Sound, affect, and the ecology of fear. Technologies of Lived Abstraction, 2012.
Hagood, Mack, Hush. Media and Sonic Self Control“, 2019.
Hainge, Greg, Noise Matters: Towards an Ontology of Noise, 2013.
Kahn, Douglas, Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts, 1999.
Kane, Brian, „Sound studies without auditory culture: a critique of the ontological turn”, Sound Studies (1.1), 2015, S. 2-21.
Kämpf, Heike, „Judith Butler: Die störende Wiederkehr des kulturell Verdrängten.“ In: Moebius, Stephan; Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 2006, S. 246-256.
Kittler, Friedrich A., Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart, 2013.
Mills, Mara, „Deafness“, in: Novak, David; Sakakeeny, Matt (Hg.), Keywords in Sound, 2015, S. 45-54.
Parikka, Jussi, The Anthrobscene, 2015.
Sassatelli, Roberta, „Interview with Laura Mulvey: Gender, gaze and technology in film culture”, Theory, Culture & Society (28.5), 2011, S. 123-143.
Schaeffer, Pierre, In search of a concrete music. Translated by Christine North and John Dack, 2012.
Schulze, Holger, „Sound Studies“, in: Moebius, Stephan, Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, 2014, S. 242-257.
Stadler, Gus, „On Whiteness and Sound Studies“, in: Sounding Out!, 06.07.2015, https://soundstudiesblog.com/2015/07/06/on-whiteness-and-sound-studies/.
Sterne, Jonathan (Hg), The sound studies reader, 2012.
Sterne, Jonathan, Mp3. The meaning of a format, 2012.
Sound
Eigner, Richard, „Lou Reed – Metal Machine Music, Part III (Denoised)“, erschienen auf: ders. Denoising Noise Music, 2007
Henry, Pierre, „Variations pour une porte et un soupir”, 6. Satz „Etirement“ (1967), erschienen auf: ders. Galaxie Pierre Henry, 2021.
Reed, Lou, „Metal Machine Music, Pt. 3“, erschienen auf: ders., Metal Machine Music, 1975.
Beitragsbild: Photo by Kristina Flour on Unsplash
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