Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 27./28.11.2020
Über Jahrzehnte galt das Radio als die modernste und aktuellste Nachrichtenquelle. Bis sich das Fernsehen (1960er-Jahre) durchzusetzen begann, verfügte der Hörfunk als Live- Nachrichten-Medium über ein Alleinstellungsmerkmal. Daher war es über viele Jahre von politisch strategischer Bedeutung, sich des Sprachrohrs Rundfunk zu bedienen. In zahlreichen Ländern war das Radio staatlich reguliert, sollte einen Bildungs- und Kulturauftrag erfüllen sowie zu einer nationalstaatlichen Identitätsbildung beitragen.
Die Repräsentant*innen verschiedenster politischer Systeme nutzten den Hörfunk zur Konstruktion imaginierter Gemeinschaften und zur Propagierung von Selbst-, Fremd- und Feindbildern. Der Streit um die Vorherrschaft über politische, gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Diskurse wurde auch über Radioprogramme ausgetragen. Politische Vorgaben, Entscheidungen und Handlungen wurden per Radio im Sinne der Regierungskräfte kommentiert und die Bevölkerung entsprechend instruiert, beeinflusst und bisweilen dirigiert. Doch auch oppositionelle Kräfte nutzten den „Äther“, um unterdrückte Informationen zu verbreiten und vor allem in diktatorischen Systemen für Freiheit und Demokratie zu werben. Dabei waren es etwa Emigrant*innen, die während des Zweiten Weltkrieges gemeinsam mit den Alliierten Radioprogramme konzipierten und gestalteten, um die Menschen in NS- Deutschland und in den besetzten Gebieten in deren jeweiligen Sprache zu erreichen. Viele der im Zweiten Weltkrieg tätigen Emigrant*innen setzten nach 1945 ihre Arbeit auf der einen oder anderen Seite des Eisernen Vorhanges fort.
Aus Sicht der Westalliierten (allen voran der USA) eignete sich aus damaliger Perspektive kein anderes Medium besser dazu, um (politische) Grenzen zu überwinden. Für die US- Außenpolitik hatte der Rundfunk im Sinne von „Hearing is Believing“ eine wichtige Funktion in der Informationspolitik. Ost und West versuchten durch eigens konzipierte Radioformate, unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen und für die eigenen gesellschaftspolitischen Ideen zu gewinnen. Bei der Programmkonzeption waren die jeweiligen soziokulturellen Bedürfnisse des Landes und der fokussierten Zielgruppen zu berücksichtigen. Zugleich stellte sich die Frage, wie inhaltliche Schwerpunkte am besten didaktisch, rhetorisch, aber auch emotional und ästhetisch aufbereitet werden sollten, um die Hörer*innen mit ihren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen abzuholen und letztlich für das jeweilig beworbene Gesellschaftsmodell nachhaltig zu gewinnen.
Im Zuge der Tagung sollen unterschiedliche Strategien zur Ausgestaltung und Bewerbung nationaler Selbstbilder sowie gesellschaftspolitischer Systeme diskutiert werden. Gleichfalls ist die Inszenierung von Fremd- und Feinbildern im Rundfunk Thema. Wie wurden politische Ereignisse in der Radioberichterstattung aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert? Wie versuchte man politische Handlungen zu legitimieren? Lassen sich hinsichtlich der Propagandamaßnahmen in verschiedenen Ländern und unter unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen ähnliche Strategien in der Rundfunkpolitik ausmachen? Gibt es Prallelen oder auch gravierende kulturell- gesellschaftlich begründete Unterschiede in der Konzeption von Radiobeiträgen? Inwiefern dienten Radioberichte zur Konstruktion bzw. Stabilisierung nationaler Identitäten?
Des Weiteren sind Hörpraktiken und -erlebnisse zu diskutieren: In welchem Rahmen wurden Radioprogramme konsumiert (im Familienkreis, als Gemeinschaftserlebnis im Gasthaus/Verein, allein, geheim etc.)? Welche Konflikte konnte der Konsum von Radioprogrammen nach sich ziehen (Generationskonflikte, Denunziation aufgrund des Hörens von „Feindsendern“)? Welche positiv besetzten Gemeinschaftserfahrungen sind auszumachen (Identitätsbildung, Widerstand etc.)?
Grundsätzlich sollen auch die Quellensituation, das Quellenstudium sowie Analysemethoden erörtert werden: Welche Quellen zur Radiogeschichte liegen uns vor (Aktenmaterial zu politisch-strategischen Überlegungen, Hörer*innenbefragungen, Manuskripte, Programmhefte, autobiografische Quellen, Audioquellen/Tonaufnahmen etc.)? Welche Methoden der Text-, Diskurs-, Sprach-, Musik- und Tonanalyse bieten sich für fachspezifische, aber auch interdisziplinäre Fragestellungen an? Wie lassen sich Text- und Tonquellen unter Einbeziehung rhetorisch-sprachlicher Mittel, dem Einsatz und der Funktion von Stimmen (Ausdrucksweise, Sprachmelodie, Idiom, Sprechtempo etc.), von Geräuschen und Musik untersuchen? Welche Emotionen und Stimmungen werden durch das Zusammenspiel von auditiven Elementen evoziert?
Der Call richtet sich im Besonderen an Kolleg*innen der Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, der Soziologie, der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie der Sprach-, Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft.
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