STILLE, GERÄUSCH, RAUSCHEN. Ästhetische und medientechnische Anmerkungen

Noise, Rauschen und Störung haben aktuell Diskurskonjunktur. Dabei steht bereits das vergangene Jahrhundert im Zeichen der kompositorischen und theoretischen Auseinandersetzung mit diesen Themen. Manch vermeintliche Neuentdeckung zu Geräusch und Störung ist längst Geschichte und im Spannungsfeld der Emanzipation der Dissonanz und des Geräuschs ausgiebig verhandelt. Es geht also im aktuellen Noise-Diskurs gerade auch um die Differenz zu den Fragestellungen des 20. Jahrhunderts. Der folgende Beitrag wurde Ende 2018 in „Texte zur Kunst“ publiziert und erscheint hier im Magazin der AG Auditive Kultur und Sound Studies mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Die Aufmerksamkeit, die dem Geräusch und seinen Begleitern zukommt, passt ins Bild. Den diversen Turns, den Leitperspektiven des Visuellen, des Performativen etc. nachfolgend, steht das Auditive im Zentrum aktueller Diskurse. Doch gerade der Fokus auf das Geräusch ist keineswegs neu. Ist der Diskurs tatsächlich so vergesslich, dass er die Kontroversen und Umwälzungen in Sachen Stille und Geräusch, die das 20. Jahrhundert bereits nach der Jahrhundertwende prägten, noch einmal auf die Theorieagenda setzt? Gibt es nichts Wichtigeres und Zeitgemäßeres in Zeiten des politischen Irrlichterns und der Hybridisierung von Kunst und Technologie im Zeichen digitaler Kontrolle oder posthumaner Zukunft? Wie entwickelt sich in diesem Zusammenhang die Macht der Kulturindustrie, wie verändern sich ihre ökonomischen und rechtlich-moralischen Assets im Urheberrecht und bei der digitalen Distribution? Aber vielleicht sind es gerade die auditiven Nebenschauplätze, die neue Perspektiven auf diese Veränderungen erschließen[1]: die geräuschhafte Low-Culture-Musik der jeweils benachteiligten, verdrängten oder vergessenen Schichten, Regionen, Kulturen; der überhörte Background; die Resonanz des Körpers und des Unbewussten; das Schweigen der Lämmer, die ihre Lage realisieren. Soll diesen Perspektiven nicht einfach naiv gefolgt werden, so gilt es, sich zu erinnern. Welche Rolle spielen dabei die Noise-Erkundungen des 20. Jahrhunderts, vor deren Hintergrund die heutige Renaissance des Geräuschs stattfindet? Sind ihre Narrationen hilfreich, hinderlich oder bereits etablierte Elemente in Gestaltung und Diskurs?

Heroen der Geräuschästhetik

John Cage 1988

Da wäre wieder einmal im Zentrum des letzten Jahrhunderts und der Provokation John Cages „stilles Stück“ „4’33″“ – das übrigens kein Stück der Stille, sondern des Schweigens ist. Und auch der mehrfache Imperativ der Partitur – das dreimalige „Tacet“ – in der Fassung der Edition Peters[2] gilt nur für die Instrumentalisten, nicht für das Publikum. Also eine absolut klassische Arbeit in der Werktradition mit Partitur, Ausführenden und Publikum mit der klaren Spielanweisung, aktiv zu schweigen. Die von Cage ausdrücklich als beispielhaft erwähnte Aufführung David Tudors beschreibt einen Pianisten, der den Klavierdeckel öffnet, um die Aufmerksamkeit zu lenken. Dieser kalkulierte Bruch mit der Erwartung der Hörer*innen war einmal spannend, als er das Verhältnis von notiertem Werk und seiner Interpretation durch „Ausführende“ als solches thematisierte oder die Ohren für den Klang der Konzertsituation sensibilisierte. Das war 1952, also vor mehr als einem halben Jahrhundert. Noch heute verleitet der falsche Respekt vor dieser kompositorischen Großtat Studierende regelmäßig zu seminarinternen Aufführungen, in denen sie das penetrante Geräusch der Lüftung des Videoprojektors (denn während „4’33″“ läuft die PowerPoint-Präsentation über Stille in der Komposition des 20. Jahrhunderts weiter) mit Stille oder aufregenden Umweltklängen verwechseln. Entfällt die Aufmerksamkeit in der Rezeption für ein (manchmal vermeintlich) intentionales Schweigen, so tritt unmittelbar ein Hintergrundgeräusch an die Stelle der wahrgenommenen Stille.

Eine weitere Erzählung bildet sich um den endgültigen Formanspruch der Kalküle seriellen Komponierens, diesmal bei Iannis Xenakis, der nach den Gesetzen der Statistik Klang- und Geräusch-Cluster bildet. Anders, weniger bescheiden als bei Cage und mit Gestaltungswillen, wird dort das mehr oder weniger statistisch determinierte Überlagern und Rauschen zur komponierten Musik. Als Erklärung erhalten wir von Michel Serres eine irgendwie bekannte Version ontologischer Urgründe. „Xenakis […] tilgt das Signal und komponiert das Rauschen. Er läßt uns die universalia rerum hören, die nackte Stimme der Dinge im Universum.“[3]

Müssen wir also die „Emanzipation des Geräuschs“ im 20. Jahrhundert, die Geräuschtöner („Intonarumori”) der italienischen Futuristen, die Sirenen bei Varèse, die „Constructions in Meta!“ und die präparierten Klaviere beim frühen Cage, die rhythmisch schlagenden Eisenbahnschwellen in der „Étude aux chemins de fer“ Pierre Schaeffers oder das Überblasen, die Atmung und Klappengeräusche des Saxophons (die Musique Concrète Instrumental des Jazz) bei Albert Ayler wieder einmal in den Blick nehmen, um schließlich nach Soundscapes und Klangarchitektur die Relevanz des „Background Noise“[4] zu entdecken? Vor einem breiteren historischen Horizont liegt die letzte Geräuschepoche gerade hinter uns; Rauschen, Geräusch, Stille und Schweigen scheinen ausgeforscht. Doch die Perspektive zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine veränderte. Neue Geschichtserzählungen konkurrieren miteinander, die Differenzen zu den Themen und Anliegen der heroischen Epoche des Geräuschs zeichnen sich ab – und vielleicht gibt es nebenbei einige Merkwürdigkeiten zu entdecken.

Ursprung, Emanzipation, Befreiung

Bereits der 1995 zum steirischen herbst in Graz erschienene Band „das rauschen“ lässt wenige Fragen offen und verzeichnet, auf der Höhe der Zeit verhandelt, die Mythen des Ursprungs, die Erzählungen der Emanzipation und der Befreiung.[5] Dort findet sich alles zu Rauschen und Geräusch, von der Entstehung des Universums über das Rauschen der Medien und die Störgeräusche der Kommunikationstheorie bis zur sonischen Kunst. Beginnen wir mit dem Urknall: „Das Weltenrauschen begleitet den Menschen seit der kosmischen Geburt im Makrokosmos der Galaxien, und es begleitet ihn als Klang des Lebens im Mikrokosmos seiner individuellen Existenz.“[6] Mythen wie dieser bilden tatsächlich den Ausgangspunkt zu sowohl naturwissenschaftlich begründeten Teleologien als auch zu spekulativen Kulturtheorien des Geräuschs und der Stille.

Zeitungsanzeige von 1960

Vor diesem Urgrund, nach der Emanzipation der Dissonanz und animiert durch den Aufbruch in die Klangkulisse des Industriezeitalters folgt kurz nach der Wende ins 20. Jahrhundert der bereits oben skizzierte Aufstieg des Geräuschs, sowohl im Sinne der Eroberung neuer Klanguniversen als auch als Reflex auf Industrialisierung und die neue Macht komplexer Algorithmen. Wenig später wird es ernst; die Befreiung ist vollzogen. „Auf die Techno-Transformation der Musik reagiert allein das Zulassen des Prinzips Rauschen.“[7] Neben den bereits erwähnten Arbeiten der klassischen Avantgarde wird dieser Satz durch eine meist übersehene Fundstelle bestätigt, die fast nebenbei die medienästhetische Neupositionierung von Signal und Störung vollzieht, die im Diskurs erst mehrere Jahrzehnte später ankommt. Unbemerkt von den Großtheoretikern des Rauschens und der Störung und nahezu parallel zu den epochalen Werken Cages, Stockhausens und Xenakis’ wird das Störgeräusch medialer Schaltkreise instrumentalisiert und alltagstauglich. Ab 1959 wird im Wurlitzer Sideman, einer der ersten Drum Machines, das Eigenrauschen der Röhrenschaltkreise verstärkt und in ein Nutzsignal, in die Drumsounds „Maracas“, „Brush“ und „Cymbal“ verwandelt.[8] Dieser scheinbar triviale Vorgang eignet sich kaum für verklärende Ursprungsfantasien, macht jedoch unmissverständlich deutlich, dass das Verhältnis von Signal und Störung nicht technisch vorbestimmt, sondern Gegenstand einer einfachen Entscheidung jenseits technischer Determination ist.

Nahezu gleichzeitig, Mitte der 1950er, und ebenso wenig verwandt mit den vorherrschenden Geräuscherzählungen, gibt es eine weitere kuriose Fundstelle der Vertauschung von medialem Nutzsignal und Backgroundgeräusch, diesmal im Lacan’schen Modus des projizierten Begehrens und im Zeichen der damals herrschenden Geschlechterverhältnisse. Heinrich Böll lässt in einem satirischen Hörstück einen von den absurden Inhalten – aus technischer Sicht: den Signalen – des Hörfunks gepeinigten Mitarbeiter zum Sammler von Tonbandschnipseln des Schweigens werden. Diese sind keineswegs mediale Leerstellen, sondern enthalten Atemgeräusche, das Aufnahmerauschen und die Hintergrundgeräusche des Raums, die als Projektionsfläche für Protagonist und Zuhörer*in dienen. Auch privat wird das mediale Schweigen für den WDR-Mitarbeiter Dr. Murke zur Obsession, wenn er, im Hintergrund das Geräusch eines kleinen Aufnahmegeräts, einige Minuten Band, „von einem bildschönen blonden Mädchen“, individuell „beschweigen“ lässt.[9]

Paradoxerweise verschwindet das Rauschen, nachdem es sich gerade vom technischen Übel zum vielfach nutzbaren Artefakt gewandelt hat, im Zuge der Digitalisierung (im Consumerbereich spätestens seit 1983, der Einführung der Compact Disc) Schritt für Schritt aus den Medien. Digitaler Code kennt kein Rauschen. Seine technische Semiose, sein Verhältnis zu den Speichermedien ist nicht durch physische Analogie, sondern durch Vereinbarung definiert. Rauschen entsteht nur noch an den „Schnittstellen“ zur analogen Welt, an den Kanten des Rasters, das die Welt digital zurichtet. Übertragung und Speicherung sind buchstäblich vom Rauschen befreit, Kopien und Original ununterscheidbar. Der Begriff Rauschen taugt nur noch dazu, analoge Reminiszenzen im digitalen Musikbetrieb zu rekonstruieren.[10] Hier deuten sich die weitere Materialwerdung des Rauschens und eine Distanzierung im Sinne wissenschaftlicher Methodik bereits an.

Kulturindustrielles Sonic Engineering

Als Ende der 90er Jahre der deutsche Jazztrompeter Till Brönner (ja, der, den sich Barack Obama 2016 zum Abschiedsdinner in Berlin gewünscht hat) sein Album „Love“ aufnimmt, besteht sein Flügelhorn- und Trompetenton gefühlt zu einem großen Teil aus Luft, genauer gesagt aus Atemgeräuschen. Anders als bei Albert Ayler, der mit dem Geräuschhaften als expressiver Strategie experimentiert, wird das Atemgeräusch bei Brönner zum Markenzeichen. Durch die mit den verschiedensten Dämpfern modifizierte Trompete bei Miles Davis oder den lufthaltigen Ansatz des Cool Jazz bei Chet Baker– dessen Ton später durch die Folgen seiner Heroinsucht bisweilen in ein Trompetenflüstern übergeht – sind die Referenzpunkte bereits gesetzt, derer man sich bedienen kann. Bei Brönner dient das Geräusch weniger der punktuellen Ausdifferenzierung musikalischen Ausdrucks – es wird zudem teilweise aufnahmetechnisch durch Kompression[11] erzeugt – als der Markenbildung. Es ist der neue Sound von Brönner, in dem Ayler, Davis, Baker und die Geräuschkultur des Jazz, domestiziert auf einen Soundeffekt, mitschwingen. Ausführlich genutzt wird diese Referenz bereits im nächsten Album, „Chattin’ with Chet“ (2000), das innerhalb des populären Mainstream-Jazz die Genregrenzen mit Anklängen der DJ-Culture, mit Scratch-Phrasen und sequenziertem Synthesizerrauschen im Background (in „You Don’t Know What Love Is“) virtuos erweitert. Der Atemsound ist ein Element im Ensemble dieser Effekte und inszeniert dabei den Tribut an Chet Bakers Sound.

Die scheinbar immanente Hi-Fi-Logik der von Geräuschen gesäuberten Aufnahme ist hier passé, die Störung verweist als Marke des Authentisch-Individuellen auf die Spielpraxis des Jazz. Dies gilt ebenso für das Plattenknistern der DJ-Culture, Atemgeräusche in den Vocals oder Geräuschanteile in Feedback-Devices und Loopern. Hier geht es nicht mehr um das Entdecken neuer Klanguniversen; das Geräusch ist längst selbstverständliches Material in Spielweise und Studiotechnik, mit den verschiedensten Referenzen universell einsetzbar und im kulturindustriellen Mainstream etabliert.

Eine weitere und aktuelle kulturindustrielle Verwertung des sonischen „Urgrunds“ ist der Drone (das „Dröhnen“), eine tieffrequente, je nach Kontext mehr oder weniger geräuschhafte Klangfläche, die in den Surround-Anlagen der Kinos und der Beschallung von Großveranstaltungen ständig präsent ist. Der Drone dient zur Emotionalisierung der Atmosphäre, etwa als tieffrequentes „Enhancement“ kriegerischer Aktionen in Blockbustern wie „Herr der Ringe“ oder in der erwartungsschürenden Tiefbassfläche in der Allianz Arena vor dem Spielbeginn des 1. FC Bayern München.[12] Hier kommerzialisiert sich das, was Steve Goodman in „Sonic Warfare“ oder Christoph Cox mit „Sonic Materialism“ beschreiben.[13] Die neue Erzählung des Urgrunds, die „ontology of vibrational force“ (Goodman), übernimmt jenseits von Klangexperiment und „organized sound“ (Varèse) Regie. Die klangforscherische „Emanzipation des Geräuschs“ ist in eine Dominanz der Kontrolle des Unbewussten und Environmentalen umgeschlagen, in der Stille oder Schweigen keinen Platz mehr haben. Was in der sonischen Kunst der psychedelischen Dauertoninstallationen La Monte Youngs oder den atmosphärischen Drones im öffentlichen Raum bei Max Neuhaus noch Experiment und Artistic Research war oder in Dubstep und Hyperdub als gemeinschaftsbildendes und lustvolles Tiefbass-Schwimmbecken neue Erfahrungswelten erschloss, ist hier berechnendes und berechnetes Kalkül der Sounddesigner*innen und Veranstaltungsmanager*innen.

Auch dieser Bereich zeigt den immer wieder beschworenen Aufstieg der Störung ins Zentrum der Kommunikation; die Atmosphäre beginnt geräuschhaft zu klingen und bestimmt die Verhältnisse: Wir sind eins in der Sphäre der Macht (des Krieges, der Lust, des Films, des Fußballs, der terroristischen Bedrohung etc.). Allerdings fügen sich diese Verwertungen kaum noch ein in die naive Ursprungsmystik sonischer Universalia oder in die große Befreiungserzählung, die mit der Fortschrittsvokabel der „Emanzipation“ verbunden war. Im Gegenteil, das als Material vorhandene „befreite“ Geräusch ist nun ein beliebig verfügbarer Nachklang einer Geräusch­epoche und gehört zu den kulturindustriellen Versatzstücken etablierter Medienproduktion. Die von der Avantgarde erträumte Emanzipation des Geräuschs ist in der vertrauten Rezipienten­erwartung angekommen, ihr Neuigkeitswert gering, die Referenzen festgezurrt. An dieser Stelle wünscht man sich klammheimlich die Adorno’­sche Fortschrittstheorie des Materials zurück, die eine Angemessenheit der Materialverwendung fordert. Eine unterkomplexe und hierarchische Verwendung eines so komplexen Klangs wie der des Rauschens würde hier sicherlich als unzulässiger Gewaltakt gegenüber der „Tendenz des Materials“ verstanden.

Sonic Agents in der dynamischen Raumzeit

Was nicht heißt, dass es keine spannenden Entdeckungen, Erzählungen und Experimente gäbe. Es geht indessen gerade darum, die ontologischen, musikästhetischen und medientheoretischen Grundlinien in den Erzählungen der Vergangenheit wieder aufzurufen. Nicht, um sie zu wiederholen oder sie in falschem Respekt zum Maßstab zu erheben, sondern um Probleme und Potenziale zu identifizieren, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu verstehen und Entwicklungen nachzuzeichnen.

In größter Kürze zusammengefasst sind aktuell sowohl erweiterte analytisch-wissenschaftliche Forschung als auch Artistic Research im Soundbereich geprägt von historischem Bewusstsein, einer Dynamisierung der Klang-Raum-Relation und einem vertieften technisch-sensorischen Engineering von GPS und vernetzten Messstationen bis hin zu bildgebenden Verfahren, einer Sensibilisierung über die vertrauten Narrative des „Deep Listening“ hinaus.

Hinzu kommt ein im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den verschiedensten Diskursen virulenter Noise-Begriff, der aus der oben skizzierten Aufwertung der Störung und des Rauschens resultiert und das zunächst Unzugängliche, Irrationale und Unverständliche theoriefähig werden lassen soll.[14] Gleichzeitig dient er – auch im Selbstverständnis der Beteiligten – als Etikett für eine Soundpraxis jenseits der Grenzen eta­blierter Hochkultur (etwa im Hip-Hop als „Black Noise“[15]) und erschließt entsprechend vernachlässigte und verdrängte klangliche und kulturelle Gebiete. Die neue Wertschätzung des Geräuschs erbt die Provokation der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, sie durchbricht die etablierte Wertordnung der Sinne und der ihnen zugeordneten Artefakte, den falschen Glanz der reinen Klänge einer gleichermaßen elitären wie durchkommerzialisierten westlichen Kultur, sie wird zur Kritik etablierter Regimes.

Mit der phonografischen Aufzeichnung wird ein Teil der Vergangenheit hörbar. Dieses „audible past“[16] initiiert eine neue Geschichtsschreibung des Auditiven und mit ihm eine Archäologie der Geräuschlandschaften. In den Tonarchiven der Audioaufzeichnungen und der Audiospuren des Bewegtbilds sind dokumentarische und fiktionale Klänge aller Art und mit ihnen auch der jeweilige „Geräuschteppich“ des Hintergrunds jenseits der gelenkten Aufmerksamkeit verfügbar. Hier kann das Beiläufige, Vergessene aus heutiger Perspektive wiederentdeckt und Teil neuer Erzählungen werden. Geschichten vergangener Zeiten können nun buchstäblich anders „lauten“, das vergessene Rauschen der Drum Machines und das Schweigen des Dr. Murke werden wieder hörbar. Vielen solchen Erzählungen, etwa der des „urban past“ oder derjenigen der „ephemeren Klänge“[17] haften allerdings die erkenntnistheoretischen Probleme jedes Field Recording an. Alle Records sind mediale Artefakte, in denen keineswegs die „Realität“, sondern das Aufzeichnungsmedium mit seinen technischen und kulturellen Präformationen in seinem eigenen medialen Dispositiv erklingt. Sie erfordern eine medienreflexive Methodik.

Das neue Bewusstsein für die auditive Vergangenheit wirkt bis in die künstlerischen Arbeiten hinein. Zu den klassischen raumbezogenen Arbeiten wie Bill Fontanas „Soundbridge Köln/San Francisco“ (1987), in denen reale Orte mit Klängen anderer geografischer Orte konfrontiert werden, kommen Installationen der Schichtung von auditiven Vergangenheiten in der realen Präsenz des betreffenden Ortes. Historisches Denken und technisches „Enhancement“ führen ebenso zu Neuinterpretationen oder Neuentwürfen von Werken, die in ihrer Zeit dem Stand der Technologie voraus waren. Die „Polytope“ von Iannis Xenakis (1971) etwa werden in der Version „N-Polytope“ (2012)[18] als Netzwerk audiovisueller Mikro-Agenten – deren technische Basis poetischerweise „MiniBee“ heißt und einen Schwarm kleiner Roboterbienen assoziieren lässt – neu konzipiert und inszeniert. Hier geht es nicht mehr um Statistik oder Zufall, sondern um eine Verschachtelung automatisch generierter Raumsphären, deren audiovisuelle Kohärenzen jeweils neu erzeugt werden. So begründet die neue Beziehung von Klang und Raum, in der die statischen Klanginstallationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweitert werden und mit raum- und bewegungsgesteuerten Geräuschen eine dynamisierte Raumerfahrung ermöglichen, ein neues Feld soundkartografischer Methodik.

Visualizing the Circulatory Problems of Lisbon (s. Anm. 20)

Das Gegenteil solcher synthetischen Atmosphären sind analytische Ansätze, in denen die scheinbar undefinierbaren Geräuschlandschaften der Städte in ihre einzelnen dynamischen Elemente zerlegt werden. Techniken wie GPS, Simulation und Visualisierung unterstützen dabei eine dynamische Kartografie von „noise maps“, in die temporale Prozesse („timing the drone“; Bewegung und gegebenenfalls Rhythmik) präzise integriert werden. Ziel ist z. B. ein „pragmatic concept of sonic agents which will be used […] to denote all active contributors to a given universe of sound – be they human or nonhuman (or hybrid). […] The concept of the drone as an active sonic agent shifts the emphasis towards the making of a sound (rather than the perception of a sound), thus partially questioning the anthropocentric perspective on the soundscape.“[19]

Solche Ansätze enthalten eine Gegenerzählung zum unergründlichen Geheimnis der auditiven Atmosphären, zu den Ontologien des Rauschens sonischer Urgründe. Ihr Programm ist Analyse und Aufklärung, und ein wenig Entzauberung des vom Raunen der Avantgarden überlagerten Geräuschs täte gut. Die Visualisierung, auf der die „travelling drones“ in der Infrastruktur der Stadt verortet werden, erzählt jedoch schon wieder eine altbekannte Geschichte: Die Metaphorik lebender Organismen mit Gerinnseln, Blutgefäßen und Kreislaufproblemen[20] ;erinnert an die Industrialisierungsmetaphern der Futuristen und lässt einen Rückfall in deren verklärende Denkweisen („das schlagende Herz der Großstadt“) befürchten.

Artistic Research in diesem Bereich agiert hier zuweilen offener und bei aller ästhetischen Ambivalenz auch aufklärender im Wortsinn: Die auditive Identifikation unbemannter Flugkörper (im doppelten Sinn „travelling drones“) der „Study into 21st Century Drone Acoustics“ versammelt „17 drone types, ranging from small consumer drones to large military drones“ auf Vinyl-LP mit reich illustriertem Booklet.[21] Das Beispiel zeigt das Potenzial künstlerischer Forschung, die sich nicht in vertrauten Erzählungen des Geräuschs erschöpft, gleichzeitig dient ihr die Vinyl-LP als medienreflexive Geste im Verweis auf Materialität und popmusikalische Praxis des „Albums“.

Gonçalo F. Cardoso and Ruben Pater: A Study into 21st Century Drone Acoustics (s. Anm. 21)

Anmerkungen

  • [1] Abgesteckt wird dieses Feld u. a. durch den Sammelband: Michael Goddard/Benjamin Halligan/Paul Hegarty (Hg.), Reverberations. The Philosophy, Aesthetics and Politics of Noise, New York. 
  • [2] Erstaufführung („Woodstock Manuscript“) durch David Tudor 1952; „First Tacet Edition“, Peters No. 6777 (1960); vgl. Larry J. Solomon, The Sounds of Silence: John Cage and 4′33″, 1998 (revised 2002); https://web.archive.org/web/20090620121133/http://solomonsmusic.net:80/4min33se.htm (gesehen am 10.10.2018). 
  • [3] Michel Serres, Hermes II. Interferenz, Berlin 1992, [OA Paris 1972], S. 254. 
  • [4] Wie es etwa, wiederum mit John Cage als Ausgangspunkt, Brandon LaBelle in „Background Noise. Perspectives on Sound Art“, New York 2006, unternimmt. 
  • [5] Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), das rauschen. Aufsätze zu einem Themenschwerpunkt im Rahmen des Festivals „Musikprotokoll ’95 im steirischen herbst“, Hofheim 1995. 
  • [6] Max Peter Baumann, „Rauschen im Kopf“, in: Ebd., S. 28. 
  • [7] Peter Weibel, „Geräusche, Rauschen, Schall und Klang“, in: Ebd., S. 95. 
  • [8] Siehe dazu Malte Pelleter, „Beating Time. Futuristic Histories and Past Futures of the Drum Machine“, in: Good Vibrations – A History of Electronic Musical Instruments, Ausst.-Kat., Musikinstrumenten-Museum Berlin, 2017, S. 43 und 116. 
  • [9] Heinrich Böll, Doktor Murkes gesammeltes Schweigen, Hörspiel, Bearbeitung & Regie: Hermann Naber, mit Henning Venske als Dr. Murke, SR/SWF 1986, Länge: 56:09 Min., hier ab Min. 42:13. Erstveröffentlichung als Kurzgeschichte in den Frankfurter Heften, Frankfurt/M. 1955. 
  • [10] Stefan Heidenreich, „Rauschen, filtern, codieren – Stilbildung in Mediensystemen“, in: Sanio/Scheib, a. a. O., S. 24. 
  • [11] Durch Pegelanhebung der im Signal leiseren Atemanteile treten diese in den Vordergrund. 
  • [12] So gehört vor Spielbeginn Champions League 1. FC Bayern gegen Ajax Amsterdam am 2.10.2018 in München. 
  • [13] Steve Goodman, Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, Mass. 2010; Christoph Cox, „Beyond Representation and Signification: Toward a Sonic Materialism“, in: journal of visual culture, 10(2), 2011, S. 145–161. 
  • [14] In der Finanzwelt z. B. Fischer Black, „Noise“, in: The Journal of Finance, Vol. XLI, 3, 1986, S. 529−543. 
  • [15] Tricia Rose, Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hanover & London 1994. Eine der aktuellen Arbeiten in dieser Begriffstradition ist das vom Linzer Prix Ars Electronica 2017 ausgezeichnete „Klangbuch“ „Not Your World Music: Noise In South East Asia“ von Dimitri della Faille und Cedrik Fermont; http://archive.aec.at/prix/showmode/55681/
  • [16] Jonathan Sterne, The Audible Past, Chapel Hill 2003. 
  • [17] Karin Bijsterveld (Hg.), Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld 2013; Monika Dommann/Boris Previšić/Marianne Sommer, „Acoustic Ephemeralities: Introduction“, in: Journal of Sonic Studies, 13, 2017; https://www.researchcatalogue.net/view/323272/323273/0/0 (gesehen am 3.10.2018). 
  • [18] Iannis Xenakis „Polytope de Persépolis“ (1971); Chris Salter in Kooperation mit Sofian Audry/Marije Baalman/Adam Basanta/Elio Bidinost/Thomas Spier, „N-Polytope: Behaviors in Light and Sound After Iannis Xenakis“, Installation Gijon, Spanien, 2012, http://www.chrissalter.com/n-polytope (gesehen am 3.10.2018); im ZKM Karlsruhe 1. September – 23. Oktober 2018.
  • [19] Fritz Schlüter, „Mapping the Drone. Sonic Agents in Urban Soundscapes“, in: Petr Gibas/Karolína Pauknerová/Marco Stella et al. (Hg.), Non-humans in Social Science: Animals, Spaces, Things, Červený Kostelec 2011, S. 117−136. 
  • [20] Pedro Cruz/Penousal Machado, Visualizing the Circulatory Problems of Lisbon, Poster Proceedings, SIGGRAPH 2011, Vancouver 2011. 
  • [21] Gonçalo F. Cardoso/Ruben Pater, A Study into 21st Century Drone Acoustics, Vinyl-LP, Discrepant Label 2016 http://droneacoustics.org/. Auszeichnung Prix Ars Electronica 2017 Hybrid Art; Foto: Cardoso/Pater / Ars Electronica; (CC- BY-NC-ND 4.0).