Das Tempophon, auch Laufzeitregler, Springermaschine oder Information Rate Changer genannt, ist ein analoges Gerät, mithilfe dessen Tonhöhe und Tempo von Tonbandaufnahmen unabhängig voneinander variiert werden können. In seinem Beitrag geht Maximilian Haberer der Medienkulturgeschichte dieses akustischen Zeitreglers nach.
Ein Beitrag von Maximilian Haberer
„I’m sorry, Dave, I’m afraid I can’t do that.”
Kaum ein Satz der Medienkulturgeschichte verkörpert derart idiosynkratisch die in der Nachkriegszeit wachsende Angst vor Ungehorsam und Kontrollübernahme intelligenter Computersysteme wie diese befehlsverweigernde Antwort der künstlichen Intelligenz HAL9000 aus Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey. Dabei findet die Technophobie in Kubricks Sci-Fi Epos vor allem akustisch Ausdruck: Optisch als rote Leuchtdiode denkbar opak gehalten, kommuniziert HAL fast ausschließlich über seine „Stimme“. Hierbei scheint die künstliche Intelligenz klanglich zwischen Mensch und Maschine zu oszillieren – Klangfarbe und Konnotation entsprechen zwar einer gewöhnlichen menschlichen Stimme, doch der Stimmausdruck, das Tempo und die monotone Sprachmelodie haben etwas Unnatürliches, Un- bzw. Übermenschliches.
So klingt für Scott Brave, Autor von Wired for Speech. HowVoice Activates and Advances the Human-Computer Relationship, HAL gleichzeitig distanziert und ehrerboten nach einer Mischung zwischen Butler und Psychoanalyst. Die Stimme der womöglich berühmtesten Künstlichen Intelligenz der Filmgeschichte erscheint somit von einer überschwänglichen Rationalität geprägt, höflich im Umgang und erhaben über jeden emotionalen Ausdruck. In ihr kulminiert ein technophober Diskurs der 1960er Jahre im Angesicht selbstlernender Systeme und sprechender Computer (1962 demonstrierte John L. Kelly von den Bell Labs die Möglichkeit computergenerierter Sprachsynthese mithilfe des IBM 704).
Wie Wendy Carlos in einem Essay verdeutlicht, wäre, abgesehen von der erstaunlichen stimmlichen Performance des kanadischen Schauspielers Douglas Rain, dieser akustische Kunstgriff jedoch ohne eine relativ unbekannte (nicht-intelligente) Maschine kaum möglich gewesen: Gemeint ist der Eltro Mark II Information Rate Changer, auch als Tempophon oder Springermaschine (manchmal auch als Tonhöhenregler, Zeitlaufregler oder Laufzeitregler, Zeitregler, Information Rate Changer, Rate Changer oder Time Regulator) bekannt.
Technik und Erfindungsgeschichte
Das Tempophon ist ein analoges Wiedergabegerät zur unabhängigen Tonhöhen- und Tempoveränderung. Es besteht aus einem Rotierkopf mit vier kreisförmig in gleichmäßigem Abstand montierten Tonköpfen und einem Richtungs- und Geschwindigkeitsregler. Das Gerät wird zwischen die beiden Spulen eines Tonbandgerätes montiert und kann so das durchlaufende Tonband, welches am Rotierkopf vorbeigeführt wird, quasi extern regeln.
Je nach Veränderung der Laufgeschwindigkeit und -richtung des Rotierkopfes können Teile des Bandes ausgelassen oder doppelt wiedergegeben werden und dadurch Tonhöhe und Wiedergabetempo unabhängig voneinander variiert werden. (Humpert 1987, S. 88)
So verwendet Kubrick das Tempophon in 2001: A Space Odyssey, um HALs Stimme permanent zu drosseln und sie dadurch nachträglich zu verfremden. Besonders hörbar wird das Gerät jedoch, wie Wendy Carlos verrät, gegen Ende des Films bei HALs fast schon deliriöser Abschaltung:
“During the scene in which Dave (Keir Dullea) “lobotomizes” HAL, you’ll easily hear how the tempo of Rain’s [Actor Douglas Rain, MH] voice becomes slowly expanded and pitch-shifted gradually downwards. Actually, his entire performance as HAL has a mild amount of time stretching (no alteration of pitch) going on, as Stanley confided to me. I told him I hadn’t noticed it before, and he smiled: “it was about 10-20%, rather subtle.” But that was enough to enhance Rain’s performance with a slightly more measured quality. It’s in the final HAL scene that the Eltro effect is cranked way up. “We did that in two passes”, Kubrick quietly explained. One pass gradually dropped HALs pitch down to almost zero, remaining at a constant speed. The other pass gradually stretched it out in time, but not as extreme, as HAL sang “Daisy, Daisy” (Bicycle Built For Two by Harry Dacre). And indeed, you couldn’t do this simply by slowing down a regular tape recording, as many pundits have since wrongly guessed (to reach the final low pitch, the tempo would crawl to a near-stop).” (http://www.wendycarlos.com/other/Eltro-1967/index.html)
HALs Abschiedslied “Daisy, Daisy” ist hierbei eine direkte Referenz auf die bereits erwähnte Demonstration computergenerierter Sprachsynthese des IBM 704, welcher dazu in der Lage war mit Hilfe eines Vocoders eben genanntes Lied zu „singen“.
Doch Kubrick war bei weitem nicht der erste Anwender des Tempophons, geschweige denn der damit verbundenen Technologie des vierkantigen Rotierkopfes. Die Erfindung des Tempophons wird häufig auf eine Publikation Dr. Anton Springers von 1955 in den Gravesaner Blättern (Springer 1955) zurückgeführt, in welcher er die Konzeption eines akustischen Zeitreglers präsentiert, die wenig später Grundlage des ersten kommerziellen Tempophons der Heidelberger Firma Automation werden sollte. In Wirklichkeit stammt das Patent für die Technologie (insbesondere für den Rotationskopf) aber bereits aus dem Jahre 1938 und wurde vom AEG-Ingenieur Eduard Schüller beim Deutschen Reichspatentamt eingereicht. (Schüller 1938) Schüllers Konstruktion, welche 1944 von der AEG für die Wehrmacht in Form des Tonschreiber b umgesetzt wurde, war allerdings nicht darauf ausgerichtet, Tonaufnahmen ohne Tempoveränderung zu transponieren. Seine Funktion war die eines „Horchgerätes“, mithilfe dessen Schnelltelegrafiesignale und Sprache durch langsameres abspielen ohne Tonhöhenveränderung bequem abgeschrieben werden konnten. (Bruch 1982)
“Dieses Grundprinzip wurde genutzt, um etwa Funksignale, die per Schnelltelegrafie gesendet worden waren, mittels Verlangsamung zu dechiffrieren. Dazu wurde das mit hoher Bandgeschwindigkeit aufgenommene Signal mit langsamerer Bandgeschwindigkeit abgespielt. Nun wäre normalerweise die Frequenz des eigentlichen Signals, zum Beispiel eines Funkspruch, so niedrig, dass es allenfalls schwer zu verstehen gewesen wäre. Der Dehnerkopf transponierte das Signal in einen höheren, im besten Fall den ursprünglichen Frequenzbereich, sodass es einfacher zu erkennen war.” (Engel 2013, S. 145)
Während die technologischen Ursprünge des Rotationskopfes (und somit auch des Tempophons) anhand des von Schüller eingereichten Patentes relativ gut dokumentiert sind, erscheint die Verbreitung und die Vermarktung des Gerätes in der Nachkriegszeit vergleichsweise diffus und gilt noch vollständig zu rekonstruieren. Die vorhandenen Konturen sollen an dieser Stelle dennoch zusammengetragen werden:
Zumindest das Schicksal zweier Tonschreiber nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist weitestgehend bekannt: Ein Tonschreiber b gerät Friedrich Engel zufolge in die Studios des Bayrischen Rundfunks, ein anderes dieser Geräte gelangt interessanterweise in das Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in die Hände Karlheinz Stockhausens, „zur Transposition und Verfremdung von elektronisch erzeugten Klängen“ (Engel 2013, S. 145). Über eine Verwendung des Rotationskopfes ist leider nichts bekannt.
Die Kapitalisierung der Transpositionsmöglichkeiten des Rotationskopfes und die Erfindung des Vorbaugerätes Tempophon erfolgt, wie bereits erwähnt, dann schließlich durch den Ingenieur Dr. Anton Springer. Dieser meldet in der Zeit zwischen 1951 und 1961 „für die AEG-Beteiligungsgesellschaft Telefonbau und Normalzeit, Frankfurt, zehn Patente an, die um das Thema Laufzeitregelung von Magnettonaufnahmen kreisten.“ (Engel 2013, S. 146) Die Produktion und Vermarktung des Gerätes erfolgt in Deutschland ab einem der bisherigen Recherche zufolge leider unbestimmten Zeitpunkt durch das Unternehmen Automation Heidelberg, in den Vereinigten Staaten wird das Gerät zunächst als MLR 38/15 Tempo Regulator und ab 1966 als Eltro Information Rate Changer Mark II über Gotham Audio Corporation bzw. Infotronic Systems Inc. vertrieben, wobei als Hersteller hier stets Eltro Automation GmbH, Heidelberg, West Germany, genannt wird.
Die Verwendung des Tempophons zur tempounabhängigen Transposition und tonhöhenunabhängigen Tempovariation von Musik ist hierbei ein von Springer explizit ausgesprochener Anwendungsbereich. (Springer 1962) Dies äußert sich nicht zuletzt auch im Design des Interfaces: So befinden sich Markierungen am Drehknopf zur Steuerung der Bandgeschwindigkeit und des Rotationskopfes, an denen sich diatonische Tonintervalle ablesen lassen.
Kompositionen mit Tempophon
Während die Verwendung des Rotationskopfes des Tonschreibers durch Stockhausen und andere Komponisten ungeklärt scheint, liegen über die musikalisch-kompositorische Verwendung des Tempophons hingegen eindeutige Bekenntnisse und Kompositionen vor. So findet sich im Bestand des Studios für Elektronische Musik bis heute auch ein Tempophon, welches Herbert Eimert etwa für seine Komposition Epitaph für Aikichi Kuboyama verwendete. (Humpert 1987, S. 166) Interessanterweise macht Eimert hierbei jedoch nicht die offensichtliche Funktion der Tonhöhen- bzw. Tempoveränderung produktiv, welche ab Veränderungen von 25% zu Qualitätseinbußen führte.
“Wichtiger ist ein durch das Tempophon möglich gewordenes Verfahren, das – typisch für die Praxis der elektronischen Musik – im Bauplan des Gerätes gar nicht vorgesehen ist: das Tonband steht still und wird an einer einzigen Stelle durch die 4 Tonköpfe des Rotierkopfes abgestastet. Auf diese Weise ist es möglich, kürzeste Klangerscheinungen wie die Explosivlaute der Sprache in Permanenz erklingen zulassen.”(Humpert 1987, S. 88)
Für Epitaph, das ausschließlich aus Sprachaufnahmen besteht, nutzt Eimert dieses Verfahren, um die aufgenommenen Laute vielfältig zu bearbeiten und zu verfremden und somit den „allgegenwärtigen Dualismus zwischen Wort und Klang“ aufzuheben und Sprache als „klangliche[n] Vorgang“ der Musik selbst darzustellen. (Humpert 1987, S. 166)
Doch nicht nur in der avantgardistischen Kunstmusik erklingen durch das Tempophon verfremdete Klänge. Noch bevor der Eltro Mark II Information Rate Changer HALs Stimme auf der Leinwand verzerrt, benutzt Brian Wilson, kreativer Kopf der Beach Boys, 1967 ein Gerät gleichen Bautyps, um die harmonischen Gesangseinlagen der Band im Song She’s Going Bald tempoverlustfrei künstlich in die Höhe steigen zu lassen. (Wilson 2017) Wieder einmal soll sich somit Friedrich Kittlers bekannte These der Rockmusik als „Mißbrauch von Heeresgerät” (Kittler 2013) bestätigen – in diesem konkreten Fall als Missbrauch von militärischer Abhörtechnik.
Die genaue Geschichte des Tempophons und vor allem seine weiteren kompositorischen Verwendungen gilt es indes noch zu bergen. Die Dokumentenlage erscheint hierbei auch aufgrund der mannigfaltigen Namen des Geräts durchaus herausfordernd. Dabei erscheint insbesondere die Verwendung des Geräts auch außerhalb musikalischer Kontexte von Interesse: So finden sich etwa diverse Spuren des Geräts im Kontext der Analyse von Vogelstimmen oder als Lernhilfe für Menschen mit Sehbehinderung.
Vor allem aber verdeutlicht das Tempophon die Möglichkeit unabhängiger Variation von Tonhöhe und Geschwindigkeit analoger Medien und verweist folglich auf eine frühe Praxis und Ästhetik akustischer Zeitdehnung.
Literatur
Bruch, Walter (1982): 100 Jahre Ton- und Bildspeicherung. Und wieder war es das Militär, das eine Erfindung voran trieb. Artikel Nr. 49. In: Funkschau (24).
Engel, Friedrich, G. Kuper, and F. Bell (2013): Zeitschichten: Magnetbandtechnik als Kulturträger. Erfinder-Biographien und Erfindungen, Potsdam: Polzer.
Humpert, Hans Ulrich (1987): Elektronische Musik. Geschichte – Technik -Kompositionen. Mainz u.a.: Schott (Schott-Musikwissenschaft).
Kittler, Friedrich A. (2013): Rock Musik – EinMißbrauch von Heeresgerät. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin: Suhrkamp(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2073), S. 198–213.
Schüller, Eduard (1938): Hörkopf zum Abtasten von Magnetogrammen mit gegenüber der Aufnahmegeschwindigkeit veränderter Wiedergabegeschwindigkeit. Angemeldet durch AEG am 27.08.1938. Anmeldenr: A 0087918. Veröffentlichungsnr: DRP 721198.
Springer, Anton (1955): Ein akustischer Zeitregler. In: Gravesaner Blätter 1 (1), S. 32–37.
Springer, Anton (1962): Über Aufbau und Zweck des Informationswandlers. In: Nachrichtentechnische Fachberichte. Band 16, Nr. 2. Wiesbaden: Springer.
Wilson, Brian (2017): Ich bin Brian Wilson. Köln: Bastei Lübbe.
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