Abstract:
In neuerer Zeit rückt der Freiburger Denker Martin Heidegger zunehmend in den Focus der Cultural Techniques und Sound Studies, obgleich er niemals eine Abhandlung über das Gehör, über die Stimmung oder die Resonanz im exakt rechnenden Sinne verfaßt hätte. Das ist auch nicht nötig, denn das Dasein ist von seinem Grund in Sein und Zeit her immer schon in der Stimmung und steht mit diesem Grund, der neuzeitlich durch die Technik bestimmt ist, als stimmend-gestimmtes in Wechselbezug: Das Dasein ist per se Schwingung und Resonanz, ist dieser Ton selbst, den es nur selten zu Gehör bringt, denn dazu müßte es abstrakt hören können, was reichlich schwierig ist. Erschwerend kommt hinzu, daß das Ohr auf die Ortung konkreter Klanggestalten gerichtet ist, ob es sich über deren Ursprung täuscht oder nicht. Ein reales Vogelgezwitscher und eine entsprechende App neigen zum Verwischen dieses Unterschieds. Nur über die Richtung des Geräuschs täuscht es sich meist nicht.
Das Paper macht die epistemische Bildung des räumlichen Hörens von Helmholtz über Stumpf zum Reichspatent des Richtungshörers von Hornbostel und Wertheimer sichtbar, und vermutet, daß sie im Effekt mehr verbirgt als offenbart. Und wenn Heidegger Recht hat, daß das Gehörorgan die „in gewisser Hinsicht notwendige, aber niemals die zureichende Bedingung für unser Hören“ ist und wir immer „mehr hören“, dann ist das „Mehr hören“ hier als Appell an den Gebrauch der mannigfaltigen Hörgeräte gerichtet. Oder um einen anderen Satz von Heidegger zu paraphrasieren, in den Mobile Stereos steckt die ganze Audiotechnik verstärkter Stimmgabeln und Telefonmembranen und Walzen mit variabler Geschindigkeit bis zum Tonband. Abstrakt und Mehr hören heißt also den Inbegriff des Gerätes selbst hören.
Literatur:
V. Erlmann, Reason and Resonance, New York 2010
M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957
H. von Helmholtz, Über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen, Leipzig 1852
C. Stumpf, Über den Ursprung der Raumvorstellungen, Stuttgart 1873
M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, Berlin 1923
Kurzbio:
Florian Schreiner studierte Philosophie und Soziologie in Konstanz am Bodensee, wechselte 2000 zur Kulturwissenschaft ans Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2001-2004 Stipendiat der DFG, freier Kurator und Journalist, arbeitete zu Artaud, Nitsch, Ruttmann und Cage. 2009 promovierte er über „Laut-Ton-Stärke“ (Artaud-Helmholtz-Heidegger), seitdem zahlreiche Lehraufträge mit den Schwerpunkten zur Hörakustik, Kulturtechnik und Medienphysiologie.
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