Grammophonmusik, Musique Concrète und Hip Hop-Turntablism: ein ‚Nicht-Forschungsstand‘

„‚Grammophonmusik’, the roots of turntablism“: In seinem Buch beschreibt der Musiker und Autor Thom Holmes ([1985] 2008: 44)[1] die Aufführung der beiden Komponisten Paul Hindemith und Ernst Toch beim „Festival für Neue Musik“ in Berlin im Jahr 1930. Sie spielten dabei vorab komponierte und auf Schallplatten gepresste Musikstücke wiederholt und/oder in verändertem Tempo ab. Diese Stücke, die unter der Namen „Grammophonmusik“ subsummiert wurden, sowie die ihnen vorausgehenden Experimente mit dem Grammophon sieht Holmes als direkte Vorläufer der vom Hip Hop ausgebildeten Praktik des Turntablism, als „the roots of turntablism“. Hier stellt sich die Frage: Kannten die Turntablists des Hip Hop die Grammophonmusik und hatte diese einen Einfluss auf sie? Gibt es kulturelle Kontinuitäten oder Wissenstransfers, die vierzig Jahre, einen Ozean und eine massive soziokulturelle Kluft überspannen, sprich: die zwischen der Grammophonmusik von europäischen Avantgardekomponisten und den Pionieren des Hip Hop in den 1970er Jahren in der New Yorker South Bronx liegen?

Ernst Toch (1919)
Ernst Toch (1887-1964) (Quelle: Wikimedia Commons; Autor:
The Shvadron Collection of the National Library of Israel; Lizenz: gemeinfrei)

„the roots of turntablism“? Die verhängnisvolle Attraktion von Kontinuitäten

Der Beleg von Holmes über die historische Kontinuität fällt vage aus: er führt den Klangkünstler Christian Marclay an, der aus dem Milieu der New Yorker Kunst-Society stammt. Er führte ab 1979 Klangexperimente mit Turntables auf und „sometimes [he] shared the stage with hip-hop artists“ (Holmes [1985] 2008: 422). Konkrete personelle Kontakte oder Zusammenarbeiten mit Hip Hop-Künstlern nennt Holmes aber nicht. Marclays Performances fanden größtenteils in Kunstgalerien statt, nicht in Clubs oder auf Bloc Parties. Überhaupt ist die Referenz auf Hip Hop-DJs wie Grand Wizard Theodore, Grandmaster Flash oder Kool Herc, die spätestens seit Mitte der 1970er Jahre die DJ-Praktiken des needle-drop, backspinning und breakbeating entwickelten, gerade mal zwei Absätze lang, widmet sich aber ausführlich Turntable-Praktiken der künstlerischen Avantgarde. Ein in dieser Weise gelegter Fokus ist natürlich legitim, indem er aber den 1995 von DJ Babu geprägten Begriff ‚Turntablism’ aus seiner Bindung an Hip Hop löst (Katz 2010a: 126) und auf die Avantgarde ab den 1930er Jahren erweitert, suggeriert er eine genealogische Kontinuität zwischen den beiden Sphären, die jedoch nicht belegt wird und zweifelhaft bleibt.

Paul Hindemith (1895-1963) (Quelle: Wikimedia Commons; Autor: unbekannt; Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Holmes ist nicht der einzige, der solche Kontinuitäten konstruiert oder suggeriert: Sophie Smith (2013) zieht eine historische Linie von den Experimenten von Hindemith und Toch, aber auch John Cage, Pierre Schaeffer und anderen zum Turntablism des Hip Hop. „The background to the creative musical use of the turntable [hier: Hip Hop-Turntablism, LG] falls into two distinct histories. The most well known of these relates to the work of DJs, from early radio pioneers to club DJs. The other earlier, equally important history, lies outside popular music in the field of experimental music and installation art. This section aims to explore both histories in terms of the creative use of the turntable, exploring the development of compositional strategies as well as how the cultural tendencies of modernism and postmodernism are both evident in the routines of contemporary hip-hop turntablist teams.“ (Smith 2013: 20). Smith konstruiert hier offenbar eine historische Linearität zwischen diesen unterschiedlichen Turntable-Praktiken.

Rob Young geht in seinem Buchbeitrag ähnlich vor, wenn er den Breakbeat als Inbegriff („epitome“) der Musique Concrète ansieht: „At the end of the nineties, the innovations that began with GRM’s [Groupe de Recherche de Musique Concrète, LG] founders have been fully integrated into the everyday working practice of almost all musicians working across the entire musical spectrum. The breakbeat, created entirely from the manipulation of records on turntables or from recorded segments spliced together manually or digitally, is the epitome of musique concrete.“ (Young 2000: 15). Wissenschaftler der Hip Hop-Studies reagieren darauf kritisch: So fragt Ethan Hein in einem Tweet: „I keep seeing assertions that rap and techno sampling descend from musique concrète. Is there any evidence of that?“ und geht auf Youngs konstruierte Verbindung ein: „There’s no evidence for it“. Mark Katz kommentiert in seiner Rezension zu Smith, dass sie wohl dem Impuls erlegen sei, Hip Hop zu verteidigen, indem sie ihn mit Praktiken und Traditionen in Verbindung bringt, die in der Akademia anerkannt seien. Turntablists hätten aber kaum bis gar keine Verbindungen zu dieser Tradition. „Just because John Cage picked up a record player’s tone arm and set the needle down in rhythmic patterns in 1939 does not mean that he had any influence on GrandWizzard Theodore […] when he did the same in 1977.“ (Katz 2014).

Auszug aus dem graphic score zu “Imaginary Landscape No. 5” (John Cage, 1952). Die Notation gibt auf einer Zeitleiste an, welche der acht Schallplattenspieler Klänge abspielen sollen und wie lange; jeder Block entspricht drei Zoll Tonband, auf dem die gesamte Klangkomposition aufgenommen werden soll, also ca. 0,2 Sekunden (Quelle: http://exhibitions.nypl.org/johncage/node/53; Autor: John Cage). Auch im Werk “Imaginary Landscape No. 1” (1939) kommen Turntables zum Einsatz.

Nun mag der Impuls, den eigenen, vermeintlich gering geschätzten Untersuchungsgegenstand durch den Bezug auf eine anerkannte, hochkulturelle und avantgardistische Praktik zu nobilitieren, verständlich sein. Auch Katz merkt an, dass er selbst ihm schon erlegen sei.[2] Und die Intention dahinter mag auch von Anerkennung, Respekt und Goodwill gegenüber dem Gegenstand, dem Turntablism, geprägt sein. Bei Holmes könnte dieser Impuls ebenso vorhanden sein, wenn auch spiegelverkehrt: Holmes ist Musiker experimenteller elektronischer Musik und arbeitete mit John Cage zusammen – möglich, dass er in umgekehrte Richtung Hindemith & Co. für Fans und Musiker aktueller Populärer Musik und Hip Hop anschlussfähig und als ‚cool’ und ‚nice’ darstellen will. Aus dem erstgenannten Impuls ergeben sich jedoch zwei Probleme: Das erste besteht darin, dass die Turntablism-Kultur und ihre Akteure gerade nicht auf-, sondern abgewertet werden, da sie nicht als selbständig erwachsene kulturelle Praktiken anerkannt werden. Indem sie lediglich als sekundär und abgeleitet dargestellt werden, wird damit das Narrativ der westlichen, weißen, männlichen Avantgarde als DIE Brutstätte (medien-)musikalischer Innovationen fortgeschrieben. Und darin steckt auch das zweite Problem, nämlich ein rassistisches Moment, da als Innovatoren weiße Europäer oder US-Amerikaner ausgestellt werden, und afroamerikanischen und afrodiasporischen Menschen das Innovationspotential abgesprochen wird.[3] Der Impuls in seiner zweitgenannten Variante würde genau diese Narrative reproduzieren und verstärken.

Auf der Ebene ihrer technischen Ausführung sind die Praktiken der populären und der avantgardistischen Musiker durchaus vergleichbar: Pierre Schaeffer und die Musique Concrète nahmen Geräusche aus der Umwelt zuerst auf Phonographen auf und setzten die Fragmente zu Klang-Kompositionen zusammen;[4] so z.B. in den fünf „Studien“ („Cinq études de bruits“, 1948), die als Geburtsstunde der Musique Concrète gelten. Später nutzten sie für ihre Praktiken Magnettonbänder (Ruschkowski 1998: 209–210). Dies ist durchaus ähnlich zu den digitalen Sampling- und Field-Recording-Techniken, die ab Anfang der 1980er im Hip Hop und der Popmusik genauso wie in der experimentellen und Avantgarde-Musik angewandt wurden. Ähnliche Parallelen zu Praktiken des Turntablism zeigen sich bei John Cages Werk „Imaginary Landscape No. 5“ (1952), bei dem er das Abspielen von 42 Schallplatten in ach Spuren vorsah, deren unterschiedlich lange Klangfragmente in Echtzeit zu einer Collage zusammengefügt werden und auf Magnettonband aufgenommen werden sollen. Dies ist insofern ähnlich zum breakbeating oder needledrop, da auch dort einzelne Fragmente aus Schallplatten angewählt, abgespielt und miteinander gemixt werden.

„In Hip Hop we call that cheating!“

Jedoch unterscheiden sich die Formsprache, kompositorische Intention und situative Nutzung der Reproduktionsmedien grundlegend: Hindemith/Tochs „Grammophonmusik“ (1930) oder John Cages Reihe „Imaginary Landscapes“ (1939–1952) sind als Experimente und konzeptionelle Studien über die Möglichkeiten phongraphischer Medien zu verstehen (Katz 2010: 109–123). Dem Paradigma von Werk und Autor blieben sie dennoch verhaftet, was Umberto Eco als Determinante des „offenen Kunstwerks“ ansieht (Eco 1962): Cage ließ zwar völlig offen, welche Schallplatten verwendet werden konnten, gab aber in seinem graphic score genau die Länge der abzuspielenden Fragmente sowie Vortragsbezeichnungen wie crescendo und diminuendo vor. Trotz aller Offenheit in der Realisation der Ausführung und trotz Einbezug der Aleatorik in die Komposition – die Länge der einzelnen Fragmente und Spuren ließ Cage durch das I-Ging bestimmen – sind Autorschaft und Werkstatus deutlich markiert und festgelegt. Beim Hip Hop und der Sampladelia der 1980er Jahre ist es gerade die Auflösung von Werk, Autor und Originalitätsanspruch, die dort bewusst zelebriert und materiell im Klanggeschehen manifest werden.

Hindemith und Toch hatten die auf den Schallplatten gespeicherten Klangfragmente intentional für den Zweck der Reproduktion und Manipulation mittels Grammophon komponiert und aufgenommen. Der Bauhaus-Künstler László Moholy-Nagy ritzte von Hand Rillen in den Schellack, um damit Klänge zu erzeugen. Rolf Großmann hebt daher zu Recht hervor, dass Hip Hop sich in einer „ganz wesentlichen Hinsicht“ (Großmann 2008: 127) von diesen unterschied, da die Hip Hop-DJs nämlich vorhandene Medienprodukte der kulturindustriellen Produktion nutzen: „Eine Idee, die so weit vom europäischen Verständnis von Autor und Werk entfernt ist, dass sie nur in einer ‚uneuropäischen‘ soziokulturellen Situation entstehen konnte […].“ (ebd.). Grandmaster Flash kannte laut eigener Aussage Cages und andere der genannten Werke nicht; angesprochen auf diese und den Aspekt der spezifisch dafür komponierten und aufgenommenen Stücke kontert er: „In Hip Hop we call that cheating! If you’re going to use ‚Walk This Way’, you gotta use ‚Walk This Way’, just the way it is with that 2 bar drum break, and you’ve got to take those 10 seconds and make it 10 minutes, by hand. No pre-recorded going to the studio and cheating. That’s where I come from – no cheating.“

Grandmaster Flash - James Lavelle's Meltdown Festival 2014.jpg
Grandmaster Flash beim James Lavelle’s Meltdown Festival 2014 (Quelle: Wikimedia Commons; Autor: Victor Frankowski / Southbank Centre; Lizenz: Creative Commons Attribution 2.0 Generic)

Schließlich sind die „Imaginary Landscapes“ von Cage und die frühen Werke der Musique Concrète nicht als Aufführungen bestimmt, sondern als Studioaufnahmen. Demgegenüber ist Hip Hop, analog zu anderen, DJ-basierten Tanzkulturen wie Disco, House und (z.T. auch) Techno, als Praktik der musikalischen Live-Unterhaltung für ein tanzendes Publikum entstanden. Ihre Performance durch die DJs ist hochgradig improvisiert und sie basieren auf keiner irgendwie vorgefertigten Notation oder sonstigen, schriftlich fixierten Anweisung.

Eine Kontinuität zwischen phonographischen Experimenten der 1930 bis 1950er Jahre und Hip Hop-Turntablism in Bezug auf kulturelle Wissenstransfers ist also zweifelhaft und (bisher) nicht belegt[5]. In Bezug auf die verfolgten ästhetischen Strategien ist sie gar nicht vorhanden. Es gibt zwar Parallelen in der Ausformung der Praktiken und dem Umgang mit den Technologien, aber wie man aus der statistischen Methodologie weiß, sollte Korrelation nicht mit Regression verwechselt werden: nur weil etwas in ähnlicher Art und Weise feststellbar ist, folgt daraus noch kein kausaler Zusammenhang.

die Kontinuität der Affordanzen

Die einzige Kontinuität, die festzustellen ist, ist die der Technologie und der Praktiken selbst: zum einen also phonographische Speichermedien, mit denen Abbildungen von Klangverläufen in Rillenschrift gespeichert und die mittels einer Nadel ausgelesen und in Schallwellen rückgewandelt werden; und zum anderen die direkte, manuelle Manipulation der Schallplatte aus Schellack oder Vinyl, deren Abspielgeschwindigkeit verändert werden kann und bei der mit der Nadel jeder beliebige Punkt auf dem Speichermedium direkt adressiert werden kann.

Die Kontinuität in der Technologie und ihr doppelter Aspekt von Ermöglichung und Einschränkung der Praktiken lässt sich mit dem Konzept der ‚Affordanz’ theoretisch fassen. Damit wird in der ökologischen Wahrnehmungspsychologie von James J. Gibson (1979) ein vom Nutzer wahrgenommener, psychosozialer Angebotscharakter von kulturellen Artefakten beschrieben. In der Designtheorie und der Human-Computer-Interaction bzw. dem Interface-Design ist die Affordanz-Theorie v.a. mittels Donald A. Normans „The Design of Everyday Things“ (1988) stark rezipiert worden[6]. Kern des ökologischen Ansatzes ist, dass ein Großteil der menschlichen Wahrnehmung nicht eine innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit erzeugt, sondern laufend aus den ‚invarianten’ Strukturen einer bedeutungsoffenen Welt situativ und kulturell bedingte Handlungsoptionen extrahiert (Lepa 2013). Klassisches Beispiel ist ein Holzstuhl, der für einen Menschen die Affordanz zum Sitzen aufweist, für eine Termite die Affordanz zum Essen, und für einen Menschen, der bedroht wird, die Affordanz zur Selbstverteidigung. Die Handlungsangebote von Objekten, Dingen und Artefakten – ihre Affordanzen – werden situativ als Interaktion des Menschen mit dem Artefakt ausgehandelt und – sofern eine Passung vorliegt – angenommen und ausgeführt. Die Affordanz eines Objekts ist damit weder eine fest in das Ding eingeschriebene Eigenschaft, sondern sind vielmehr Handlungspotentiale, die sich aus den festen Eigenschaften ableiten lassen; noch ist es eine frei verfügbare und jederzeit wandelbare Zuschreibung an das Objekt, die vom Subjekt konstruiert ist. In ihrem Buch „Digital Signatures“ (2016) nutzen Ragnhild Brøvig-Hanssen und Anne Danielsen das Affordanz-Konzept, um damit die Produktionsweisen mit und die Nutzung von digitalen Soundtechnologien in der Produktion populärer Musik zu verdeutlichen und die wechselseitigen Bedingungen zwischen Technologien und den Usern herauszuarbeiten. Digitale Produktionstechnologien wirken zugleich ermöglichend und einschränkend, und die konkrete Form der Nutzung ist ein sowohl von den technologischen Eigenschaften als auch den Fähigkeiten, Intentionen und Bedürfnissen der Musiker*innen und Produzent*innen geleiteter Interaktionsprozess.

Der “Amen Break”, einer der meist-gesampelten Breaks, nicht nur im Hip Hop und Drum’n’Bass. Hier seine digitale Wellenform (Amplitude) als Holzskulptur (Quelle: Facebook.com/colin.hendee (offline, Screenshot: Lorenz Gilli, 16.10.2015); Autor: Colin Henderson)

Ein interessanter Punkt ist hierbei die Feststellung der Autorinnen: „While digital technology facilitates certain new operations, many music makers continue to use it as they did its [analog, LG] predecessors.“ (2016: 16). In ähnlicher Weise argumentiert Mark Katz in seinem Artikel „Sampling before Sampling“ (2010b): mit der Verfügbarkeit digitaler Sampling-Technologien für Hip Hop-Producer Anfang der 1980er wurde die neue Technologie in einem ästhetischen Kontinuum genutzt, das an die Nutzung des Plattenspielers anknüpft – nämlich als Looping-Maschine. Denn auch wenn der Sampler völlig andere Möglichkeiten zur Nutzung von gesampelten Klangfragmenten bereithält (‚affordet’) – in der elektroakustischen wie in populären Musiken wird er effektiv in solchen, von Hip Hop differenten Weisen genutzt – haben Hip Hop-Producer das ästhetische Paradigma des Loops weitergeführt. Hier schließt sich ein Gedanke an, den Katz anführt und den auch Mark J. Butler mit seiner an die Affordanz angelehnte Theorie der musical technologies verfolgt; dass nämlich einmal etablierte, ästhetische Prinzipien von Musik Affordanzen bereithalten: „It seemed to be implicitly understood that breaks not only were enhanced when repeated, but demanded to be repeated.“ (Katz 2010b: 3, Herv. LG). Butler beschreibt die musical technologies als „aspects of sonic organization“ und als „principles of design affording certain kinds of performative interaction“ (Butler 2014: 175). Analog zu Musiktechnologien wie Plattenspielern, Samplern oder DAWs und MIDI-Controllern bieten sie dem Musiker nicht nur diverse Handlungsoptionen an, sie fordern sie bis zu einem bestimmten Grad geradezu ein: ein Breakbeat verlangt geradezu nach Wiederholung, und ein Drop im EDM verlangt nach exzessiver Verzögerung. Trotzdem obliegt es dem Musiker, situativ und souverän über die Annahme und die konkrete Ausgestaltung zu entscheiden. Katz hebt zwar hervor, dass nicht nur technologische Determinanten den Gebrauch von Musiktechnologien bestimmen, sondern auch „ the history and aesthetics of the user or community of users“ (Katz 2010b: 7). Leider bleibt er in seinen anschließenden Ausführungen bei historisch-kulturellen, ästhetischen und praktischen Kontinuitäten, und geht nicht mehr auf den vom Klanggeschehen ausgehenden Aufforderungscharakter ein. In der Betrachtung des Aufforderungscharakters von solchen musical devices (Solberg 2014: 64), also ihren Affordanzen, liegt jedoch eine Möglichkeit, Kontinuitäten jenseits von kulturellen, sozialen und ästhetischen Wissenstransfers nachzugehen. Erst eine solche medienökologische Betrachtung der technologischen wie sonischen Materialität, ihrer jeweiligen Affordanzen und den Bedürfnissen und Nutzungsweisen der User vermag die komplexen Wechselwirkungen zwischen Technologie, Ästhetik und Kultur offenzulegen.


[1] Diesen Abschnitt gibt es auch auf seinem Blog: http://www.thomholmes.com/Noise_and_Notations/Noise_and_Notations_Blog/Entries/2008/9/20_Early_Turntablism.html

[2] z.B. hier: „Even hip-hop turntablism […] can trace its roots to Grammophonmusik. Nearly sixty years before the first DJs were manipulating records in live performance, like-minded experimentalists were doing the same in the musical capitals of Europe.“ (Katz 2010a: 122).

[3] Potentiell steckt auch gender-diskriminierendes Moment darin. Da aber auch die Hip Hop-History hauptsächlich oder sogar ausschließlich eine männliche ist (als Pioniere und Innovatoren sehe ich immer nur Männer genannt), kommt dieser Aspekt hier nicht zum Tragen; eine Revision der Hip Hop-History mit speziellem Blick auf Frauen, Transgender und non-binary artist wäre sehr wünschenswert, steht aber meines Wissens noch aus.

[4] Da hier das zugrundeliegende, musikalische Material ‚konkrete’ Klänge waren und keine abstrakten, in einer Notation festgehaltenen Ideen und Konzepte wurde dieser Ansatz „Musique Concrète“ – konkrete Musik – genannt (Ruschkowski 1998: 209–210).  

[5] Im Gegensatz gibt es belegte Hinweise zu einer Verbindung von Hindemith und Toch zu John Cage: Cage wohnte nämlich als junger Student der Aufführung von Hindemith und Toch in Berlin bei; obwohl er über einen direkten Einfluss keine Aussagen machte, erwähnte er einen positiven Eindruck der beiden Künstler auf ihn (Katz 2010a: 113).

[6] In der Popular Musicology ist das Konzept seit Mitte der 2000er ebenfalls rezipiert worden, hauptsächlich da mit ihm die Bedeutung von Musik als weder fix im Klanggeschehen determiniert noch völlig arbiträr vom Hörer konstruierbar, sondern als Interaktion und als situativ, kulturell und personal variabel aufgefasst werden kann. Einen guten Einstieg bietet Moore (2013), weitere Arbeiten sind Brøvig-Hanssen/Danielsen (2016), Clarke (2005, 2010), Danielsen (2015), Moore (2012), Reybrouck (2015), Windsor/de Bèzenac (2012), Zeiner-Henriksen (2010)). Auch die Mediensoziologie hat das Konzept teilweise aufgegriffen (Zillien 2009; Lepa 2012, 2013).


Bibliographie:

Brøvig-Hanssen, Ragnhild / Danielsen, Anne: Digital Signatures. The Impact of Digitization on Popular Music Sound; MIT Press: Cambridge (Mass.), London 2016.

Butler, Mark J.: Playing with Something that Runs. Technology, Improvisation and Composition in DJ and Laptop Performance; Oxford University Press: Oxford 2014.

Clarke, Eric F.: Rhythm/Body/Motion: Tricky’s Contradictory Dance Music In: Danielsen, Anne (Hg.): Musical rhythm in the age of digital reproduction; Ashgate: Farnham 2010, S. 105–120.

Clarke, Eric F.: Ways of Listening. An Ecolological Approach to the Perception of Musical Meaning; Oxford University Press: New York u.a. 2005.

Danielsen, Anne: Metrical Ambiguity or Microrhythmic Flexibility? Analysing Groove in ‘Nasty Girl’ by Destiny’s Child In: Von Appen, Ralf / Doehring, André / Helms, Dietrich / Moore, Allan F.: Song interpretation in 21st-century pop music; Ashgate: Farnham 2015, S. 53–72.

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Gibson, James J.: The Ecological Approach to Visual Perception; Psychology Press: New York 1986.

Grossmann, Rolf: Die Geburt des Pop aus dem Geist der Phonographischen Reproduktion In: Bielefeldt, Christian / Dahmen, Udo / Grossmann, Rolf (Hg.): PopMusicology. Perspektiven der Popmusikwissenschaft; transcript: Bielefeld 2008, S. 119–134.

Holmes, Thom (Hg.): Electronic and Experimental Music. Technology, Music and Culture; 3. Aufl. Routledge: London 1985.

Katz, Mark: Capturing Sound. How Technology has Changed Music; Rev. ed. University of California Press: Berkeley 2010a.

Katz, Mark: Sampling before Sampling. The Link Between DJ and Producer In: Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung / German Society for Popular Music Studies e. V. 9 (2010b), S. 1–11 – Online: http://www.gfpm-samples.de/9Inhalt.html (09.11.2015).

Katz, Mark: Rezension von: Smith, Sophy: Hip-Hop Turntablism, Creativity and Collaboration (Farnham: Ashgate, 2013) In: Dancecult. Journal for Electronic Dance Music Culture 6 (2014) – Online: https://dj.dancecult.net/index.php/dancecult/article/view/487/468 (02.08.2016).

Lepa, Steffen: Was kann das Affordanz-Konzept für eine Methodologie der Populärkulturforschung leisten? In: Kleiner, Marcus S. / Rappe, Michael (Hg.): Methoden der Populärkulturforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Internet und Computerspiele; LIT: Münster / Hamburg / London 2012, S. 273–299.

Lepa, Steffen: Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten. Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien In: Volmar, Axel / Schröter, Jens (Hg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung; transcript: Bielefeld 2013, S. 373–391.

Moore, Allan F.: An Interrogative Hermeneutics of Popular Song In: El oído pensante 1(1) (2013), S. 1–21 – Online: http://ppct.caicyt.gov.ar/index.php/oidopensante  (11.04.2019).

Moore, Allan F.: Song means. analysing and interpreting recorded popular song; Ashgate: Farnham 2012.

Norman, Donald A.: The Design Of Everyday Things; Basic Books: New York 2002.

Reybrouck, Mark: Music as Environment. An Ecological and Biosemiotic Approach In: Behavioural Sciences 5 (2015), S. 1–26.

Ruschkowski, André: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen; Stuttgart 1998.

Smith, Sophy: Hip-hop turntablism, creativity and collaboration; Ashgate: Farnham 2013.

Solberg, Ragnhild Torvanger: “Waiting for the Bass to Drop”: Correlations Between Intense Emotional Experiences and Production Techniques in Build-up and Drop Sections of Electronic Dance Music In: Dancecult. Journal for Electronic Dance Music Culture 6 (2014), S. 61–82.

Windsor, W. Luke / de Bèzenac, Christophe: Music and Affordances In: Musicae Scientiae 16(1) (2012), S. 102–120.

Young, Rob: Roll Tape. Pioneers in Musique Concrète In: Shapiro, Peter: Modulations. A History of Electronic Music: Throbbing Words on Sound; Caipirinha Productions Inc.: New York 2000, S. 8–23.

Zeiner-Henriksen, Hans T.: Moved by the Groove. Bass Drum Sounds and Body Movements in Electronic Dance Music In: Danielsen, Anne (Hg.): Musical rhythm in the age of digital reproduction; Ashgate: Farnham 2010, S. 121–140.

Zillien, Nicole: Die (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanzkonzept in der Mediensoziologie; In: Sociologia Internationalis 46(2) (2008), S. 161–181.